stern: Laut einer Studie der Universität Leipzig sind die Ressentiments gegenüber Sinti und Roma stark angestiegen. 55,4 Prozent hätten Probleme damit, wenn sie sich in ihrer Gegend aufhalten. 55,9 Prozent meinen, Sinti und Roma neigen zu Kriminalität. Überraschen Sie diese Zahlen?
Romani Rose:
Diese Zahlen sind erschreckend, aber nicht überraschend, wenn man bedenkt, wie unsere Minderheit in den Wahlkämpfen von Populisten pauschal als Sozialbetrüger und Armutsmigranten verunglimpft wurde. Niemand differenziert, nimmt zur Kenntnis, dass die meisten Sinti und Roma arbeiten und Steuern zahlen – egal, ob sie schon immer hier leben oder neu zu uns gekommen sind. Stattdessen findet eine negative Zuschreibung allein aufgrund der Abstammung statt. Das ist Rassismus. Neu ist aber, dass der Antiziganismus im Zentrum dieses Rassismus steht.
Viele Menschen nehmen Roma offenbar vor allem als Problem wahr: als aufdringliche Bettler, als aggressive Scheibenwischer oder als Verursacher von Müll und Lärm. Sind das alles nur Klischees?
Das gibt es alles, auch wenn es nicht immer Roma sind, und niemand die Roma wahrnimmt, die hierher gekommen sind und Arbeit gefunden haben. Und natürlich sind die genannten Probleme oft lästig. Es gab in Städten wie Duisburg oder Dortmund einen konzentrierten Zuzug von Familien, die sich selbst überlassen waren. Die Kommunen fanden keine Abhilfe, die Anwohner sind verärgert. Diese Zustände will ich nicht beschönigen. Ich sage auch in aller Deutlichkeit: Leute, die unser Sozialsystem betrügen, müssen konsequent verfolgt und bestraft werden. Man darf aber nicht pauschal behaupten, es würden Heerscharen von Armutsflüchtlingen unser Sozialsystem fluten. Das ist faktisch falsch und nichts anderes als populistische Hetze auf dem Rücken unserer Minderheit.
Laut der Studie wollen 47 Prozent der Befragten Sinti und Roma sogar aus den Innenstädten verbannen. Was sagen Sie diesen Menschen?
Das macht mich fassungslos. Wen meinen diese Leute eigentlich? Wir ziehen doch nicht alle ständig übers Land - heute in Berlin, morgen in Paris oder Amsterdam. Sinti und Roma sind seit 600 Jahren Bestandteil dieser Gesellschaft. Die meisten von uns sind vollständig integriert, Persönlichkeiten in Unternehmen, im Sport, sogar in der Politik, aber sie geben sich nicht zu erkennen. Es wäre wichtig, wenn sie mit ihren Biografien an die Öffentlichkeit gingen. Aber die wenigsten trauen sich, weil sie sich nicht ständig den Klischees anderer aussetzen wollen.

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Aber es gibt eben auch jene Roma, die sich jeder Form von Integration verweigern. Wie lässt es sich verhindern, dass das Klischee von den "Zigeunern" nicht weiter genährt wird?
Sehen Sie: Einen jüdischen Menschen würden Sie das niemals fragen. Weil es als selbstverständlich gilt, dass Nicht-Integration die Ausnahme ist und nicht der Regelfall. Bei uns wird das immer zu einem rassischen Merkmal gemacht, zu einem kulturellen Verhalten. Dagegen wehre ich mich.
Was erwarten Sie von der Politik?
Ich appelliere an alle Parteien, Vorhaltungen nicht an der Abstammung festzumachen. Wer negatives Verhalten Einzelner an der Zugehörigkeit einer Volksgruppe festmacht, der handelt rassistisch. Ich habe den Bundestag darum gebeten, analog zum Antisemitismus-Bericht in jeder Legislaturperiode auch einen Bericht zum Antiziganismus in Deutschland vorzulegen.
Was erhoffen Sie sich davon?
Er würde Fakten liefern, die Populisten den Wind aus den Segel nehmen. Er könnte dabei helfen, dass wir diese schlimme europäische Tradition beenden. Zum Glück sind wir in der Bundesrepublik weit entfernt von Zuständen, wie sie in Südosteuropa herrschen, wo es Ghettos gibt, sogar Mordanschläge. Hierzulande hat sich vieles beispielhaft entwickelt. Wir sind anerkannte Minderheit, es gibt Staatsverträge, Schutzklauseln, wir haben das Mahnmal für die 500.000 im nationalsozialistischen besetzten Europa ermordeten Sinti und Roma eingeweiht. Aber während der Antisemitismus gesellschaftlich geächtet wird, übernimmt der Antiziganismus immer mehr die Funktion, die vordem der Antisemitismus erfüllte.
Lieber Leser, zunächst ging ein nicht-autorisiertes Interview mit Romnai Rose online. Dieses hier ist die autorisierte Version.