Lebst du schon, oder doomscrollst du noch? Doomscrolling ist das Wort der Stunde. Es klingt so schön nach Weltuntergang und meint das zwanghafte Lesen von Nachrichten im Netz, die einem bestätigen, wie schrecklich die Welt ist. Wer das macht, weiß, dass er damit weder der Welt noch dem eigenen Glücksgefühl gerecht wird. Trotzdem scrollt er immer weiter, weil der Weltuntergang eine so verführerische Erzählung ist.
Mit Volldampf ins Unglück scrollen
Es scheint, als wären fast alle doomsüchtig geworden: Doomthinking, Doomtalking, Hauptsache, Doom. In der Nacht, als eine Rakete in Polen einschlug, dauerte es keine drei Minuten, bis in den sozialen Medien der Dritte Weltkrieg trendete. Die Neurosen der Massen ist man gewohnt, doch selbst seriöse Medienportale drehten schnell auf und entwarfen die schlimmsten Szenarien: Was, wenn die Nato nun Kriegspartei wird? Kurz darauf war der Vorfall besonnen aufgeklärt; es bleibt das Gefühl, in Zeiten zu leben, in denen die meisten so tun, als stünden wir an einer Klippe, und es brauchte nur einen Windstoß, um alle im Abgrund zu sehen. Über die zwei Menschen, die durch die Rakete tatsächlich starben, hörte man wenig, als wäre die Tragödie zweier Menschen in diesen Zeiten zu klein.
Ein weiterer Schwarzmalwettbewerb beschäftigte sich mit dem Gas, das wegen Putins Krieg fehlen würde. Wie werden wir durch diesen kalten Winter kommen? Es folgte ein monatelanges Ausmalen von Angstszenarien. Optimismus verbreiten? Das wagt kaum noch jemand. Es ist, als holten alle das Popcorn hervor, sobald es Negatives zu hören gibt. Als wären wir süchtig nach Schauermärchen.
Manche bewahren glücklicherweise einen kühlen Kopf
Zum Glück gibt es noch ein paar Pragmatiker unter uns, die währenddessen einfach ihre Arbeit machen. Noch bevor der Winter da ist, hören wir die beruhigende Meldung von den vollen Gasspeichern. Sie löst jedoch bei den meisten nur ein Achselzucken aus: „Ach so!“ Schon wendet man sich mitsamt seinem Popcorn in der Hand dem nächsten Weltuntergang zu.
Der Weltuntergang durch die klerikale Rechte in den USA blieb aus
In den USA wurde er soeben leider auch ohne jede Vorwarnung abgesagt, dabei hatte man ihn so schön heraufbeschworen. Wochenlang hatten Experten ein Erdbeben vorhergesagt, weil die von Trump unterstützten Kandidaten für einen demokratiegefährdenden Wechsel bei den Zwischenwahlen sorgen würden. Radikale Republikaner säßen dann mehrheitlich im Senat, überhaupt sei das einst mächtigste Land der Welt so gut wie verloren. Man hörte meist jene Experten, die glauben, die evangelikalen Rechten seien die stärkste Macht im Land. Also jene, die den amerikanischen Mythos der Selbsterneuerung für eine optimistische Lüge halten. Weniges ist so beliebt wie Antiamerikanismus, der sich als Sorge tarnt. Die politischen Beobachter hier wie dort schrieben Trump und seine Anhänger geradezu an die Macht, diese Erzählung war so überzeugend, dass selbst Umfragen sie bestätigten – und so erneut versagten. Viele Trump-Kandidaten, die mit der Lüge von Bidens geklauter Präsidentschaft Wahlkampf gemacht hatten, floppten. Der Senat bleibt mehrheitlich demokratisch, obwohl bei Zwischenwahlen die regierende Partei meist abgestraft wird. Keine Spur von Erdbeben, wohin jetzt mit dem Popcorn? Und was machen die Klicks?
Ich weiß, wir haben uns zu naiv und gutgläubig schlafen gelegt, als Großbritannien den Brexit wählte, als in den USA unerwartet statt Hillary Clinton der radikale Donald Trump an die Macht kam. Mag sein, niemand möchte je wieder so naiv sein, nicht mit dem Schlimmsten zu rechnen. Es wäre aber naiv, wenn man dadurch nichts Gutes mehr sieht – und das Beste verpasst.