Zuerst war es die Fassungslosigkeit darüber, dass ganze Häuserzüge brennen, auch in gediegenen Stadtteilen. Dann die Angst, dass man selbst Opfer der willkürlichen Gewalt werden könnte. Und nun ist es der Hass auf die Angreifer: "Wenn ich noch einmal irgendwo lesen muss, dass diese hirnlosen, plündernden Arschlöcher 'Demonstranten' genannt werden, drehe ich durch", schreibt ein Londoner auf seiner Facebook-Seite. "Die protestieren gegen rein gar nichts. Die haben keine Botschaft."
Großbritanniens Vizepremier Nick Clegg gab den "Arschlöchern" als erster einen offiziellen Namen: Das sind "opportunistische Kriminelle", sagte er. Als Premier David Cameron aus dem Italienurlaub zurückkam, hörte er sich ähnlich an: "Das sind schlicht und einfach Verbrechen." Der emotionale Zuspruch aus der Bevölkerung ist groß. Zu heftig sind die Bilder von maskierten prügelnden, brandschatzenden, plündernden Jugendlichen, die durch britische Städte ziehen und später auf Facebook mit Fotos ihrer Beute prahlen. "Das ist böse", sagt schließlich einer, dem die Worte ausgehen.
"Das war toll"
Man kann es ihm nicht verdenken, wenn man die Worte der Randalierer selbst hört: Die BBC sprach mit ein paar Mädchen im verwüsteten Stadtteil Croydon, die sich über das Einbrechen und Plündern freuen wie über einen Schulausflug. "Das war toll", sagen sie, um sich dann mit "Gratis-Alkohol" zuzuprosten. Und weil sie dann offensichtlich bemerken, dass es doch ein paar mehr Worte braucht, werfen sie Rechtfertigungsfloskeln ein: Die Regierung sei schuld, die Konservativen. Es gehe darum, der Polizei zu zeigen, dass "wir machen können, was wir wollen. Und das machen wir jetzt!" Und warum greifen sie eigene Leute an, fragt die Journalistin? "Reiche Leute. Leute, die Geschäfte haben. Wir machen das gegen die Reichen."
Was soll man dazu noch sagen, wenn gleich nebenan eine alte Frau weinend in ihrem verwüsteten Laden steht, der ihr Lebenswerk war und mit dem sich ihre Familie gerade so über Wasser gehalten hat? "The kids are not alright", möchte mit einem verdrehten Robbie-Williams-Zitat antworten.
"Das ist keine Entschuldigung"
Empathie, das menschliche Mitgefühl, "lernt man oder lernt man nicht", sagt Diplompsychologin Ria Uhle. Die brutalen Ausschreitungen in London seien vor allem ein Gruppenphänomen, und "Gruppendynamik setzt zum Teil individuell Gelerntes außer Kraft". Der Einzelne könne sich in der Gruppe verstecken, sagt die Referentin für schulische Gewaltprävention der Senatsverwaltung Berlin. "Und eine 'schlechte' Gruppe hat große destruktive Kraft." Aber auch Uhle ist fassungslos angesichts der ungebremsten Lust an der Zerstörung: Auch wenn es zahlreiche Gründe für Frust und Aggression gebe, entschuldige das keineswegs kriminelles Verhalten. Wie alle anderen, die sich mit dem Thema Jugendgewalt beschäftigen müssen, kommt sie zu dem Schluss, dass viele Jugendliche frustriert sind von der eigenen Ohnmacht und Perspektivlosigkeit. "Einmal arm, immer arm", sei die Aussicht, die ihnen Elternhaus und Gesellschaft mit auf den Weg geben. In Großbritannien noch mehr als in Deutschland.
Das Bild der sich öffnenden Schere zwischen Arm und Reich wird so häufig bemüht, dass sogar die plündernden Mädchen es nachplappern können. Bleibt die Frage, warum nichts passiert, wenn es doch so offensichtlich ist. Also noch mal zum Mitschreiben: Die Kluft zwischen armen und reichen Menschen in Großbritannien ist so groß wie nie zuvor seit dem Zweiten Weltkrieg. 3,5 Millionen Kinder leben in Armut. Unter den Plünderern von London waren auch Zehnjährige, die neben Alkohol und Zigaretten Süßigkeiten gestohlen haben.
"Der Mangel an Konstruktion führt zu Destruktion"
"Wenn du immer beim Sozialamt betteln musst, damit du eine neue Waschmaschine kriegst, stell dir mal die Genugtuung vor, wenn die Politiker plötzlich dich anbetteln", sagt ein junger Berliner, der sich in Problembezirken auskennt. Die Londoner Krawallmacher "genießen die Hilflosigkeit der Mächtigen. Sie geben das zurück, was sie die ganze Zeit fühlen". Ganz wie die plündernden Mädchen aus Croydon gesagt haben: "Wir zeigen denen, dass wir machen können, was wir wollen." Randale gegen die Ohnmacht - wie in den Banlieues in Frankreich, wie in Griechenland.

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Und in Deutschland? Innenminister Friedrich meint, die Bürger dieses Landes hätten begriffen, dass Gewalt keine Lösung sei. Bleibt ihm in seinem Job ja auch nichts anderes übrig. Der Rest ist Hoffnung.
"Der Mangel an Konstruktion führt zu Destruktion", lautet der geniale, aber offenbar immer weder so schwer umsetzbare Satz von Wolfgang Steininger. Der Schulpsychologe im nicht einfachen Berliner Bezirk Lichtenberg ist sich darin einig mit dem britischen Rapper The Streets, der das Pulverfass britische Jungend bereits vor zehn Jahren auf den Punkt gebracht hat: "Geezers need excitement/ If their lives don't provide them this, they incite violence/ Common sense, simple common sense" (in etwa: Jungs von der Straße brauchen Unterhaltung/ wenn ihr Leben ihnen das nicht bietet, zetteln sie Gewalt an/ Das zu verstehen, ist gesunder Menschenverstand)