Was fehlt, ist sein Geständnis.
Knapp sieben Monate nach der Festnahme des Dauercampers Andreas V. im ostwestfälischen Lügde beginnt diesen Donnerstag vor dem Landgericht in Detmold der Prozess, und man kann erahnen, wie er ausgeht. Dutzende Zeugenaussagen sowie Hunderte Film- und Fotoaufnahmen, die V. teilweise zusammen mit einem Komplizen anfertigte, belegen den Ermittlungen zufolge das Jahre andauernde Martyrium der Opfer. Kaum jemand zweifelt daran, dass der 56-jährige Angeklagte und mutmaßliche Haupttäter für lange Zeit hinter Gitter muss. Aber wird er gestehen?
Wer sich in diesen Tagen mit Anwälten der Opfer trifft, versteht, warum sie diese Frage so sehr quält. Denn von der Aussagebereitschaft des Angeklagten hängt es ab, ob sich die zum Teil auch heute noch minderjährigen Zeugen erneut einer aufwühlenden Vernehmung stellen müssen. Schweigt V. zu den Vorwürfen – was sein Recht ist –, kommt das Gericht wohl kaum umhin, die Opfer im Prozess noch einmal schildern zu lassen, was sie laut Ermittlungsakte bereits der Polizei beschrieben haben: etwa wie V. ihre "Mumu" leckte, wie sie seinen "Pillermann" küssen sollten, wie er sich an ihnen verging. Sie dürfe schreien, nur nicht so laut, soll er zu einer damals Neunjährigen gesagt haben, als er sie mit in seinen Mazda nahm.

Gemeinde Lügde-Elbrinxen
Anke Blume hat als Rechtsanwältin bereits viele Opfer in Strafverfahren vertreten. In diesem Prozess steht die Juristin aus Hameln zwei jungen Frauen bei, die als Kinder von V. missbraucht worden sein sollen. Sie weiß: "Eine solche Prozedur in Anwesenheit von vielen Erwachsenen und im Angesicht des Täters löst Scham und Angst aus." Die Vernehmung könne gerade bei minderjährigen Opfern eine Retraumatisierung zur Folge haben.
Andreas V. werden in der 64-seitigen Anklage 298 Fälle sexuellen und schweren sexuellen Missbrauchs von Minderjährigen vorgeworfen. Seit 1998 soll er sich an mindestens 23 Mädchen im Alter von vier bis 13 Jahren vergangen haben – zumeist auf dem Campinggelände "Eichwald" am Rande der Gemeinde Lügde-Elbrinxen, wo er in einem abgehalfterten Campingwagen und einem Bretterverschlag lebte. Tatsächlich könnte die Opferzahl deutlich höher liegen, die Staatsanwaltschaft konzentriert sich vor allem auf jüngere und eindeutige Fälle. Wohl auch, weil weitere Beweise das zu erwartende Strafmaß nicht erhöhen würden.
Daneben stehen zwei Komplizen in Detmold vor Gericht. Heiko V., ein früherer Koch aus der niedersächsischen Kleinstadt Stade: Der 49-Jährige räumt angeblich ein, viermal per Video-Livechat bei Missbrauchshandlungen von Andreas V. zugeschaltet gewesen zu sein und diesen dabei teilweise animiert zu haben.
Und Mario S., ein 34-jähriger Hilfsarbeiter, der bei seinen Eltern in Steinheim im Kreis Höxter lebte und der auf dem Campinggelände "Eichwald" ebenfalls eine heruntergekommene Behausung besaß. Mario S. wurde einige Wochen nach Andreas V. verhaftet. Zunächst sah es so aus, als sei er eher Mitläufer als Haupttäter. Die Anklage zeichnet nun ein anderes Bild: Danach soll S. 17 Kinder missbraucht haben, unter ihnen auch Jungen. Die ersten Taten beging S. möglicherweise sogar schon als Heranwachsender. Er ist nicht vorbestraft. Aber wie die Ermittlungsakte zeigt, hatte die Staatsanwaltschaft Paderborn bereits 2004 und 2013 wegen des Verdachts sexuellen Missbrauchs gegen S. ermittelt. Beide Male wurden die Verfahren eingestellt.
"Albtraum vom Eichwald"
Die Hintergründe der Einstellung dürften nun auch das Gericht in Detmold beschäftigen. Denn Hinweise auf pädophile Neigungen und Übergriffe der Hauptbeschuldigten gab es genügend – auch im Fall von Andreas V. So schlugen Jugendämter und Polizei wiederholt Hinweise in den Wind und ließen Ermittlungen im Sande verlaufen. Schlimmer noch: Obwohl ein besorgter Vater, eine Mitarbeiterin des Kinderschutzbunds und schließlich eine Jobcenter-Angestellte den Behörden auffälliges Verhalten von V. zur Anzeige gebracht hatten, bekam der Alleinstehende, der seit 20 Jahren auf seiner Camping-Parzelle von Hartz IV lebte, im Januar 2017 eine Pflegetochter zugesprochen. Zwischen Mai 2016 und Dezember 2018 soll V. sich dann 132 Mal an dem heute achtjährigen Mädchen vergangen haben, so die Anklage. Gegen mehrere Beamte und Mitarbeiter von Jugendämtern wird nun wegen Strafvereitlung im Amt sowie Verletzung der Fürsorgepflicht ermittelt.

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Wann der "Albtraum vom Eichwald" seinen Anfang nahm, wird sich vielleicht niemals aufklären lassen. Gut möglich, dass sich selbst bis heute nicht alle Opfer ihren Eltern oder der Polizei offenbart haben. Wann der Horror endlich sein Ende fand, lässt sich indes nachzeichnen.
Es war der 2. August 2018, als Mara* ihre Freundin Lea* besuchte, die Pflegetochter von Andreas V. Als sie wieder zu Hause war, brach das Kind in Tränen aus: Der Mann habe ihr "wehgetan". Maras Mutter rief V. an, den die Kinder nur "Addi" nannten, und stellte ihn zur Rede. Nach kurzem Zögern, so berichtete sie es gegenüber dem WDR-Fernsehen, habe er den Missbrauch zugegeben. "Sie wollte das", soll er gesagt haben. Warum immerhin elf Wochen vergingen, bis die Frau sich ein Herz fasste und Anzeige erstattete, erklärt ihr Anwalt Roman von Alvensleben mit Angst: V. habe ihr gedroht.
Mit Geistern gedroht
Am 28. November – wieder war mehr als ein Monat vergangen – kam es schließlich zur Anhörung von Lea. In der Ermittlungsakte existiert dazu ein Vermerk. Danach reagierte das Mädchen bei seiner ersten Aussage offenbar verschämt auf die Fragen der Beamten. Nur einmal, sagte sie, habe sie den Penis von "Addi" geküsst.
Erst in einer späteren Vernehmung gab sie an, dass V. ihr gedroht habe, es würden Geister kommen und sie holen, sollte sie etwas herumerzählen. Sie sei froh, sagte das Mädchen, dass "Addi" nun keine Kinder mehr schnappen könne.
*Namen von der Redaktion geändert