True-Crime-Serie "Monster" erzählt den Elternmord der Menéndez-Brüder – und zwar großartig

Screenshot aus der Serie "Monster"
Die Menéndez-Brüder müssen sich für den Mord an ihren Eltern vor Gericht verantworten.
© 2024 Netflix, Inc.
© Netflix
Die Netflix-Serie "Monster" sorgt für Diskussionen: Darf man Mördern ein solches Denkmal setzen? Die Serie ist ein großartiges Stück über das Problem der Wahrheitsfindung.

Erik und Lyle Menéndez, zwei der wohl bekanntesten Mörder der USA, könnten bald wieder in Freiheit leben. Seit 1990 sitzen die beiden Brüder in Haft, weil sie ihre Eltern ermordet hatten. Genauso lange schwebt über dem Fall die Frage, wie schwer ihre Schuld tatsächlich wiegt. 

Die damals 19- und 21-Jährigen hatten ihren Vater und ihre Mutter im August 1989 erschossen, im heimischen Wohnzimmer im kalifornischen Beverly Hills. Zunächst leugneten sie die Tat. Später erklärten sie, sie seien jahrelang von ihren Eltern missbraucht worden – sexuell, psychisch und körperlich. Sie hätten aus Angst gehandelt. 

Nun soll das Strafmaß neu verhandelt werden: Das zuständige Gericht hat für den 17. und 18. April eine Anhörung angesetzt, berichten US-Medien. Neben dem Antrag auf Neuverurteilung haben die Brüder auch ein Gnadengesuch beim kalifornischen Gouverneur Gavin Newsom eingereicht, ihre Anwälte drängen auf eine Aufhebung des Urteils. Darüber soll im Juni entschieden werden, berichtet der US-Sender ABC.

Vor allem die Netflix-Serie "Monster" hatte das öffentliche Interesse an dem Fall neu entfacht. Anlässlich der aktuellen Entwicklungen veröffentlichen wir unsere Rezension erneut. 

Um es vorwegzusagen: Ja, die Netflix-Serie über Lyle und Erik Menéndez, die 1989 ihre Eltern erschossen haben, ist vielleicht nichts für schwache Nerven. Blutige Bilder vom Tatort werden gezeigt, allerdings nur aus der Ferne. Dennoch ist die Serie großartig. Seit 34 Jahren sitzen die Brüder wegen Mordes im Knast. So lange dauert der Streit um die Frage: Sind die beiden Opfer, Täter oder beides? Sind sie Monster? Oder Opfer von monströsen Eltern? 

Besuch von Kim Kardashian

Menschen auf der ganzen Welt setzen sich für die Freilassung von Lyle und Erik Menéndez ein. Jüngst besuchte Kim Kardashian die beiden im Gefängnis. Sie studiert Jura, will Anwältin werden. Die Brüder haben keine Aussicht auf Bewährung. Während sich die Jury im ersten Prozess nicht auf ein Urteil einigen konnte, wurden die beiden in einem zweiten Prozess zu lebenslanger Haft verurteilt. Ihre Geschichte ist zigmal erzählt worden. Nun ist sie bei Netflix zu sehen.

Über weite Strecken wird die Version der Brüder geschildert, und die ist grausam: Vater José, ein Einwanderer aus Kuba, ist ein Selfmademan, der es aus eigener Kraft vom Tellerwäscher zum Millionär im Musik-Business und nach Beverly Hills geschafft hat. Seine Frau Mary Louise scheint das fleischgewordene Klischee einer "Trophy-Wife". Ihr Spitzname ist sinnigerweise "Kitty" (Kätzchen). Die ehemalige Schönheitskönigin hat ihre Karriere für Mann und Kinder aufgegeben und betäubt ihre Langeweile mit Pillen und Alkohol. Der Vater hat Großes mit seinen Söhnen vor. Sie sollen sich des Namens Menéndez würdig erweisen, auf dem Tennisplatz, an der Princeton University. Eine Politiker-Karriere schwebt ihm für die Söhne vor. 

Misshandlung und Missbrauch

Doch Erik macht erotische Fotos von sich, will Schauspieler werden. Lyle fliegt von der Uni, weil er plagiiert hat. Es setzt nicht nur Schläge, die Brüder werden sexuell vom Vater missbraucht. Der hat angeblich ein Geheimnis. Er stehe in Wirklichkeit auf Männer. Frau und Söhne seien Fassade. Die Mutter schweigt. Später lässt sie sich vom Teenagersohn den Penis zeigen, angeblich um zu checken, ob er Blasen hat. Wahre Monster-Eltern, die ihre Söhne misshandeln und missbrauchen. Man fühlt mit ihnen, entwickelt Verständnis für ihre Tat, die offenbar aus Verzweiflung geschah. Angeblich wollten die Eltern ihre Söhne umbringen, um zu verhindern, dass sie den Missbrauch öffentlich machen. Die Söhne sind ihnen nur zuvorgekommen, haben die schlafenden Eltern im Wohnzimmer erschossen, ja regelrecht hingerichtet. Aber stimmt das auch? 

"Monster" und das Spiel mit der Wahrheit

Die gespielte Jury bleibt – wie die Jury im echten Leben – unschlüssig. Dann, im letzten Teil der Serie, wird eine andere Version erzählt: Die Brüder haben den Mord geplant, um an die Millionen ihrer Eltern zu kommen. Es wird gezeigt, wie sie versuchen, Zeugen zu beeinflussen, wie sie sich verplappern, ohne zu ahnen, dass sie heimlich auf Tonband aufgenommen werden. Ihr Motiv haben sie angeblich aus einem Buch über Kinder, die ihre Eltern ermordet haben. Waren José und Kitty in Wirklichkeit gar keine Monster, sondern liebevolle Eltern? Die Schlacht im Gerichtssaal um die Wahrheit wird zum Wechselbad der Gefühle. Es ist nicht klar, was Doku ist und was Fiktion.

Verstörender Trend oder Aufklärung?

Deshalb wird im Netz und anderswo nun heftig diskutiert, ob man das darf: Mördern ein "Denkmal" ("SZ") setzen, den "verstörenden Trend" ("GQ") von True Crime fortsetzen, "Schicksale zu Unterhaltung" ("NZZ") machen. Aber True Crime oder Fiktion von Kriminalfällen gehen über die unbestrittene Befriedigung der Sensationslust hinaus. 

Gregor Peter Schmitz mit den Buchstaben GPS

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Schon in der Bibel steht, wie Kain seinen Bruder Abel ermordete. Aus Neid. Aristoteles beschrieb die reinigende Wirkung der Tragödie. Sie sorgt beim Zuschauer für Mitleid (eleos) und Angst (phobos). Sie bewirkt, vereinfacht gesagt, dass sich der Mensch besser fühlt, weil er seine Ängste durchlebt hat. Das Publikum entwickelt Mitgefühl, weil es mitgelitten hat. Die Tragödie, so grausam sie sein mag, sorgt für Verständnis – genau wie diese Serie, die eine großartige Milieu-Studie ist. Und auch, wenn die Moralapostel nun aufschreien: True Crime ist eine Form der Aufklärung. In diesem Fall zeigt sie, wie schwer Wahrheitsfindung sein kann. Und wie leicht Manipulation.