Noir - historische Fälle Die Heimsuchung

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  • von Sören Kittel
Noir - historische Fälle: Die Heimsuchung
© Shin KwangHo
Bis heute wollen die Südkoreaner die Ereignisse jener Nacht am liebsten totschweigen. Der Nacht, in der Woo Bum-kon durch das Dorf Gungnyu ging. | Teil 12 der Reihe "Noir": Historische Fälle, gelesen von Jens Harzer

Es gibt Nächte, hat Herr Shin mir erzählt, in denen wacht er auf und sieht Gespenster. Sie stehen dann im Schlafzimmer und schauen ihn stumm an. Er meint, das seien die Geister der Toten von 1982. Der 18-Jährige vor dem Kiosk, die Frauen auf der Treppe, die vierköpfige Familie im Wohnzimmer, der alte Mann vor dem Haus. Die Geschichte von den Gespenstern wirkt lange nach, weil Herr Shin sie ganz am Ende des Gesprächs erzählt hat. Vieles von dem, was er gesagt hat, wirkt nach. Durch die Begegnung mit ihm habe ich gelernt, dass die Einwohner dieses Landes nicht nur dieses große, rätselhafte Gefühl teilen, das sie Han nennen, jene unbestimmte Traurigkeit, die sich nie auflösen lässt; Herr Shin hat mir auch gezeigt, dass Korea sich bewusst entschließen kann, etwas besonders Furchtbares auszuklammern, ganz so, als wäre es nie passiert.

Auch Herr Shin spricht nicht oft über 1982, sagt er, aber er denke fast jeden Tag daran, in seinem Haus in den Bergen. Er hat es geerbt, es ist jetzt 101 Jahre alt und hat mehrere Kriege erlebt. Sein Großvater hat es gebaut, aus Holz und Stein, mit einem schweren koreanischen Ziegeldach. Um dorthin zu gelangen, musste ich an einem Tempel vorbeifahren, der sehr schön ist und so alt, dass er im „Guinness Buch der Rekorde“ steht. Vorbei auch an einem riesigen Kürbis; das Plastikgebilde soll zeigen, wie wichtig Kürbisse für die Region sind. In diesen Hügeln wurde Lee Byung-Chull geboren, der Mann, der 1938 ein Unternehmen gründete, das mit Trockenfisch anfing und später ein Weltkonzern wurde: Samsung. Die Menschen hier sind durchaus stolz auf ihre Heimat. Wenn man sie allerdings nach den Ereignissen jener Nacht fragt, dann werden sie leiser, als ob es ihnen peinlich ist, davon zu sprechen.

Erschienen in stern Crime 9/2016. Mitarbeit: Miyeon Jeon