Warum wird ein Unrecht, das hinlänglich bekannt ist, nicht abgestellt? Diese Frage stand am Anfang von Jesco Denzels Entschluss, zur Lage entlang der EU-Außengrenze zwischen Bosnien und Kroatien zu recherchieren. Das systematische, brutale Vorgehen der kroatischen Polizei gegen Flüchtlinge wurde von EU-Parlamtenarien und Menschenrechtsorganisationen seit Jahren thematisiert – ohne dass sich etwas änderte. Im Gegenteil: Während die Lage auf den griechischen Inseln Schlagzeilen machte, spielte die Not auf der blockierten Balkanroute in deutschsprachigen Medien kaum eine Rolle. "Das hat mich geärgert", sagt der Fotograf Jesco Denzel.
Von Berlin aus fuhr er in die Region, um für eine Fotoreportage über diese längste Außengrenze der EU zu recherchieren. Monatelang hatte er sich auf die Reise vorbereitet, hatte in ausländischen Medien nach Informationen gesucht und Kontakte zu lokalen Helfern geknüpft. Er begann die Arbeit, ohne Auftrag einer Redaktion oder eine Garantie, dass jemand seinen Einsatz honorieren würde. "Ich wusste, dass das Interesse an einer weiteren Geschichte über Flüchtlinge sich in Grenzen hält", sagt Denzel. "Deshalb habe ich im Vorhinein gar nicht probiert, einen Auftrag zu ergattern. Mir war klar: Du musst das erst einmal fotografieren." Im Dezember 2020 erschien seine Reportage im stern, als erste große Veröffentlichung überhaupt in Deutschland zur katastrophalen Lage in der Region. Sie nimmt in der Kategorie "Investigation" am diesjährigen Wettbewerb um den Nannen Preis teil.
Für unsere Serie zum Wettbewerb hat der Fotoreporter eine Auswahl von Bildern aus seiner Fotostrecke von der bosnisch-kroatischen Grenze zusammengestellt. Anhand dieser Aufnahmen berichtet Jesco Denzel in kurzen Protokollen von Erlebnissen und Begegnungen während seiner Recherchezeit vor Ort im Februar 2020. Und er erklärt, wie er sich den Menschen nähert, die er fotografieren möchte. "Alle, die meine Bilder sehen, sollen begreifen: Dort werden Verbrechen von Beamten der "Europäischen Union" begangen", sagt Jesco Denzel. Doch auch für ihn bleibt die Frage offen: Können solche Bilder etwas ändern?
Qualitätsjournalismus – wie wird der heutzutage eigentlich gemacht? Wie kommt ein Thema auf? Welche Quellen nutzen Reporter*innen für ihre Recherche? Welche Möglichkeiten bieten neue und traditionelle Medien? Welche Rolle spielt die Presse für eine lebendige, demokratische Gesellschaft? Um diese und andere Fragen zum modernen Journalismus kreist unsere neue Serie zum Wettbewerb um den Nannen Preis 2021, den der stern und das Verlagshaus Gruner + Jahr ausrichten. Im Lauf der kommenden Wochen werden wir hier eine Reihe journalistischer Arbeiten aus dem aktuellen Wettbewerb um die renommierteste Auszeichnung für deutschsprachigen Journalismus näher beleuchten.
Die Auswahl der Arbeiten, auf die wir an dieser Stelle in loser Folge eingehen, ist gänzlich unabhängig von der Arbeit der Jurys, die in geheimen Beratungen die Preisträger küren. Hier geht es nicht um die Frage: Welche Arbeit macht das Rennen? Sondern darum Sie, unser Publikum, teilhaben zu lassen an der beeindruckenden Vielfalt journalistischer Kreativität, die sich in den Einreichungen zum Nannen Preis 2021 zeigt.
Ihr Nannen Preis Team