Hessens Rechnungshof hält angesichts eines Finanzierungsdefizits bei vier von fünf Kommunen im Jahr 2024 mittelfristig freiwillige Gemeindefusionen für unvermeidbar. Die Selbstständigkeit aller 421 Kommunen im Land könne auf Dauer nicht aufrechterhalten werden, betonte der neue Chef der Kontrollbehörde, Uwe Becker, bei der Vorstellung ihres Kommunalberichts 2025 in Wiesbaden. Allerdings ließen sich Fusionen von Gemeinden im Sinne der Akzeptanz ihrer Bürger "nicht übers Knie brechen".
Kommunen müssten zudem die Kooperationen untereinander intensivieren - auch wegen ihres Fachkräftemangels. Rechnungshof-Abteilungsleiter Ulrich Keilmann regte als Beispiel die Gründung "interkommunaler Dienstleistungszentren für Personalbesoldung" an.
Rechnungshof: Kommunen sind mit Finanzen am Scheideweg
Überdies müssen laut dem Rechnungshof Gemeinden sich bei ihren Aufgaben kritisch fragen: "Was brauchen wir unbedingt?" Auch etwa hinsichtlich des Umfangs ihrer Kinderbetreuung. Zugleich gelte für Bund und Land etwa in sozialen Bereichen: "Wer bestellt, muss auch bezahlen". Hessens Gemeinden befänden sich mit ihren Finanzen "am Scheideweg".
Die kommunalen Einnahmen stagnieren laut der Kontrollbehörde auf hohem Niveau und sind trotz jüngster positiver Steuerschätzung mittelfristig unsicher. "Zeitgleich explodieren die Ausgaben. Hinzu kommt eine mancherorts marode Infrastruktur – insbesondere bei Schulen und Bauwerken", erläuterte der Rechnungshof, der seinen Sitz im Sinne der Unabhängigkeit in Darmstadt hat - fernab der Landeshauptstadt Wiesbaden.
Die kürzlich zugesagten 4,7 Milliarden Euro aus dem schuldenfinanzierten Infrastruktur-Sondervermögen des Bundes für die hessischen Kommunen mildern laut der Kontrollbehörde zwar die Symptome in den nächsten Jahren. "Sie helfen aber langfristig nicht. Im Gegenteil: Die Folgekosten der Investitionen schmälern den Handlungsspielraum der Zukunft", hieß es weiter. Daher müsse rasch und konsequent eine langfristig tragfähige und zielgenaue Lösung gesucht werden.
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Rechnungshofpräsident Becker, einstmals hessischer CDU-Finanzstaatssekretär, betonte mit Blick auf die Kommunen: "Gesunde Finanzen sind kein Selbstzweck, sondern Voraussetzung für den Fortbestand des demokratischen Gemeinwesens".
Kein einziger Landkreis mit Finanzierungsüberschuss
2023 betrug das Finanzierungsdefizit in den kommunalen Kernhaushalten noch minus 597 Millionen Euro, wie die Kontrollbehörde ergänzte. 2024 weitete es sich deutlich aus auf minus 2,6 Milliarden Euro. Einen Finanzierungsüberschuss hatte 2024 kein einziger hessischer Landkreis.
Die Liquiditätskredite zur kurzfristigen Sicherung kommunaler Zahlungsfähigkeit waren auch durch die Landes-Entschuldungsprogramme "Schutzschirm" und "Hessenkasse" 2023 bis auf 70 Millionen Euro verringert worden. 2024 schnellten sie jedoch auf 401 Millionen Euro hoch.
Austausch mit ukrainischem Rechnungshof
Die Gesamtschulden der kommunalen Kernhaushalte betrugen somit 16,7 Milliarden Euro im vergangenen Jahr. Das war laut Rechnungshof indessen "nur die Spitze des Eisbergs". Auf den ersten Blick unsichtbar hatten die Kommunen 2024 außerhalb des Kernhaushalts in ausgelagerten Bereichen noch Schulden von 43,5 Milliarden Euro - insgesamt waren es also fast 60,2 Milliarden Euro.
Im direkten Austausch mit dem ukrainischen Rechnungshof nahm die Kontrollbehörde auch den Zivilschutz an Hessens Schulen unter die Lupe. Nur bei einer einzigen Schule, im mittelhessischen Mittenaar, sei ein Schutzraum registriert worden - lediglich bedingt geeignet in einer früheren Klinik. Ebenso habe es bei der Notstromversorgung und den Alarmsystemen von Schulen Defizite gegeben - nicht aber beim Brandschutz.
Die Erfahrungen der von Russland überfallenen Ukraine könnten "für Hessen sehr nützlich sein", hieß es. "Schutzmaßnahmen sind nicht nur im Hinblick auf einen Kriegsfall notwendig, sie schützen vor allem auch im Krisen- oder im Amokfall", erklärte der Rechnungshof.
Beim schlagzeilenträchtigen kommunalen Finanzchaos im mittelhessischen Löhnberg konnte der Kontrollbehörde zufolge die "nicht belastbare Datenlage" auch bei einer sechsmonatigen Prüfung zusammen mit einem Staatsbeauftragten vor Ort nicht aufgehellt werden. "Insofern bleibt das Ergebnis der staatsanwaltlichen Ermittlungen abzuwarten", hieße es weiter.