Die Zusammenstöße zwischen Polizei und Demonstranten bei den Anti-AfD-Protesten am letzten November-Wochenende in Gießen sorgen weiter für Diskussionsstoff. Hessens Innenminister Roman Poseck (CDU) bleibt dabei: Ohne den Polizeieinsatz wäre es vermutlich zu schweren Gewalttaten gekommen. Sind die Einsatzkräfte dabei verhältnismäßig vorgegangen? Und wie sind die Vorwürfe des Bündnisses "Widersetzen" zu bewerten, das nach den Protesten massive Gewaltanwendung der Polizei beklagt hatte? Diese Fragen dürften Ministerium, Polizei und Justiz in den kommenden Wochen weiter beschäftigen.
Rund 25.000 Menschen hatten am 29. November gegen die Neugründung der AfD-Jugendorganisation "Generation Deutschland" demonstriert – die Mehrheit davon friedlich, wie auch Poseck kürzlich im Innenausschuss des Landtags betonte. Doch seien auch mehr als 50 Polizisten verletzt worden, wiederholt mussten die Beamten Blockaden auflösen, und es kam auch zu Sachbeschädigungen.
Virales Video löste Debatten aus
Die Proteste und der Großeinsatz von mehreren tausend Polizisten erzeugten eine ganze Flut von Bildern, die unter anderem den Einsatz von Wasserwerfern und Auseinandersetzungen zwischen Beamten in Einsatzmontur und teils vermummten Demonstranten zeigen. Besonderes Aufsehen hatte dabei ein Video erregt, in dem zu sehen ist, wie Polizisten eine Blockade auf der Bundesstraße 49 räumen und dabei auch Schlagstöcke einsetzen.
Nach Posecks Angaben liegen bislang 25 Strafanzeigen vor, davon eine wegen Verstoßes gegen das Versammlungsfreiheitsgesetz. Neun Personen seien im Zusammenhang mit den Protesten festgenommen worden, in weiteren 565 Fällen seien Personen identifiziert worden. Gegen wen sich die Anzeigen jeweils richten und welche Vorwürfe dahinterstehen, wurde zunächst nicht bekannt. Die Staatsanwaltschaft Gießen wiederum prüft nach Angaben eines Sprechers mehrere Strafanzeigen im Zusammenhang von Protesten, von denen sich zwei gegen Polizisten wegen des Vorwurfs der Körperverletzung im Amt richten. Der Journalistenverband hatte zudem beklagt, dass Reporterinnen und Reporter bei ihrer Berichterstattung über die Demonstrationen von der Polizei behindert worden seien.
Rechtswissenschaftler: "Ganz schwierige Situation" für Polizei
Für den Rechtswissenschaftler Steffen Augsberg geht es jetzt darum, die Ereignisse aufzuarbeiten und "herauszufinden, was tatsächlich passiert ist". Die Polizei sei mit Blick auf die Proteste grundsätzlich in einer "ganz schwierigen Situation" gewesen. Da es sich bei der AfD und ihrer neuen Jugendorganisation um eine zwar politisch umstrittene, aber nicht verbotene Organisation handele, hätten die Beamten das Treffen von Rechts wegen ermöglichen müssen, sagte der Professor für öffentliches Recht an der Gießener Justus-Liebig-Universität. Die Zielsetzung des Bündnisses "Widersetzen", die Zufahrt zu der Veranstaltung und damit auch diese selbst zu verhindern, sei "aus rechtlicher Sicht nicht akzeptabel".
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Nach den Protesten hatte eine Vertreterin des Bündnisses erklärt, in Gießen hätten "Polizisten den Faschisten den Weg freigeprügelt". Dazu sagte Augsberg: "Die Polizei hat eine Verpflichtung, die zulässige Veranstaltung dann auch zu ermöglichen." Zur Not müssten die Beamten auch unmittelbaren Zwang anwenden, sofern Demonstranten sich weigern, die Straße zu verlassen. Ansonsten bleibe als Alternative nur, dass die Polizei "vor dem Rechtsbruch gewissermaßen kneift und sich zurückzieht", so Augsberg. Wozu das führe, sei etwa in Hamburg bei den Krawallen während des G20-Gipfels zu sehen gewesen.
Experte sieht keine systematischen Verstöße der Polizei
Zwar habe ein großer Teil der Demonstranten in Gießen friedlich protestiert, ein "signifikanter Teil" aber auch nicht friedlich. Dies habe sich schon an ihrer Vermummung gezeigt, mit der sie gegen das hessische Versammlungsfreiheitsgesetz verstoßen hätten. Die Polizei habe Trainings und wäge die Verhältnismäßigkeiten ab, sagte Augsberg. "Das heißt, da wird nicht der Knüppel rausgeholt, wenn man noch auf andere Weise einwirken kann. Und sollte es mal so gewesen sein, dann wird das aufgearbeitet." Natürlich sei nie auszuschließen, dass im Einzelfall auch Grenzen des rechtlich Zulässigen überschritten würden, so der Rechtswissenschaftler. "Aber wir haben jedenfalls keinen Anhaltspunkt dafür, dass das grundsätzlich und systematisch erfolgt ist."
Poseck: Rund 1.000 gewaltbereite Personen unter Demonstranten
Auch Poseck hatte im Innenausschuss für eine sachliche Debatte geworben. Die überwiegende Mehrheit der Demonstranten habe sich friedlich für Demokratie eingesetzt. "Das verdient Respekt", so der Minister, "unsere Demokratie braucht Menschen, die sich aktiv für diese einsetzen". In Gießen sei aber ebenso ein erhebliches Gewaltpotenzial der Linksextremen und Autonomen sichtbar geworden. Es seien rund 1.000 gewaltbereite Personen und rund 10.000 Blockierer, die sich rechtswidrig verhielten, registriert worden. "Gewalt und Rechtsbrüche sind niemals ein legitimes Mittel in einer Demokratie." Der Zweck heilige nicht die Mittel. "Auch beim Protest gegen die AfD müssen die Grenzen des Rechts beachtet werden."
Anwalt: "Relativ viel Schlagstock-Einsatz ohne Festnahmen"
Der Marburger Rechtsanwalt Jannik Rienhoff, der mehrere während der Proteste in Gewahrsam genommene Demonstranten vertritt, hatte kritisiert, schon im Vorfeld der Proteste seien "erhebliche Horrorszenarien" aufgebaut und vor "Plünderungen" gewarnt worden. An dem Tag selbst habe es dann seitens der Polizei "relativ viel Schlagstock-Einsatz ohne Festnahmen" gegeben, "was ich rechtlich fragwürdig finde", so Rienhoff.
Bei dem Einsatz an der B49 wären aus seiner Sicht auch andere Möglichkeiten wie etwa Absperrungen infrage gekommen. "Drauf zu rennen und die Leute zu verprügeln" mache "selbst aus polizeitaktischer Perspektive überhaupt keinen Sinn", so der Rechtsanwalt. Gemessen an den von Poseck genannten Zahlen von rund 1.000 gewaltbereiten Personen und 10.000 Blockierern erscheine die Zahl der Strafanzeigen und Festnahmen zudem sehr gering. "Bei jedem Osterfeuer und jeder Kirmes ist die Quote höher", so Rienhoff.