Soziales Pflegefamilien gesucht – Kinder warten in Hessen auf Zuhause

Pflegefamilien gesucht: Fachleute berichten von steigenden Anfragen, doch viele Familien zögern. (Symbolbild) Foto: Peter Kneffe
Pflegefamilien gesucht: Fachleute berichten von steigenden Anfragen, doch viele Familien zögern. (Symbolbild) Foto
© Peter Kneffel/dpa
In Hessen fehlen Pflegefamilien – immer mehr Kinder hoffen auf ein Zuhause. Warum die Vermittlung oftmals schwierig ist und welche Herausforderungen Pflegeeltern erwarten.

In Hessen mangelt es vielerorts an Pflegefamilien. Fachleute berichten, dass die Zahl der Kinder und Jugendlichen, die auf Hilfe angewiesen sind, steigt, während die Zahl der Pflegefamilien stagniert oder abnimmt.

Der St. Elisabeth-Verein in Marburg, der Pflegefamilien in Hessen und angrenzenden Bundesländern betreut, berichtet von mehr Anfragen als Familien zur Verfügung stehen. "Wir erhalten wöchentlich bis zu zehn Anfragen von Jugendämtern aus Hessen und darüber hinaus", sagt Rahma Ataie, Fachbereichsleiter Pflegefamilien. "Wir können diese Kinder nicht alle auf die Familien, die uns noch zur Verfügung stehen, verteilen. Wenn wir keine Pflegefamilie finden, ist der letzte Ausweg eine Wohngruppe." 

Erhöhter Betreuungsbedarf als Hürde

Immer schwerer werde es, Kinder mit erhöhtem Betreuungsbedarf zu vermitteln. "Die Bedarfe haben in unserer Wahrnehmung zugenommen. Da wägen Familie dann auch ab, ob sie das leisten können", schildert Ataie. Es sei leichter, Babys zu vermitteln als ältere Kinder. "Wir nehmen eher wahr, dass ältere Kinder, die fünf, sechs, sieben, acht sind, schwerer zu vermitteln sind, weil da einfach diese frühen Jahre nicht erlebt werden können."

Die Gründe für die Zurückhaltung aufseiten potenzieller Pflegefamilien sind laut Ataie vielfältig. "Corona, Inflation, Kriege. Da müssen die Familie schauen, dass sie über die Runden kommen. Es ist alles teurer geworden. Sie müssen vielleicht auch mehr arbeiten."

Mangel teilweise auch in Kommunen

Auch die Kommunen berichten teilweise von Engpässen. "Es gibt Bereiche, in denen wir relativ gut aufgestellt sind. Einen Mangel gibt es aber auf jeden Fall bei den Bereitschaftspflegefamilien in der Stadt Kassel", sagte etwa Sabine Scherer, Fachbereichsleiterin Jugend Landkreis Kassel. "Wir brauchen dringend Familien, die Säuglinge und Kleinkinder aufnehmen." Bei ihnen sei es besonders wichtig, dass sie in ein liebendes Umfeld kommen. "Wir bräuchten auch mehr Pflegefamilien für Kinder mit besonderen Herausforderungen wie Verhaltensauffälligkeiten und geistigen Beeinträchtigungen." 

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Pflegefamilien stünden vor sehr schwierigen Herausforderungen, erklärt sie. Die Hürden seien vielfältig. So werde man als Pflegefamilie eine öffentliche Familie, müsse gegenüber dem Jugendamt in allen Facetten transparent sein. "Zudem muss man förderlich und gedeihlich mit der Herkunftsfamilie zusammenarbeiten. Das fällt zum Teil richtig schwer, denn es hat ja einen Grund, dass das Kind nicht mehr in dieser Familie ist." Pflegeeltern dürften zudem nicht den Anspruch haben, wie die leiblichen Eltern geliebt zu werden. "Sie werden auch geliebt, aber anders."

Grundsätzlich bestehe immer die Möglichkeit einer Rückführung des Kindes. "Das muss man wissen und in der Lage sein, damit umzugehen." Überdies stellten sich rechtliche Fragen. "Mit dem eigenen Kind geht man intuitiv um, mit einem fremden Kind stellen sich andere Fragen, etwa wie lange darf es draußen bleiben, was passiert im Falle eines Unfalls, wenn es ins Krankenhaus kommt." Bei Kindern mit Auffälligkeiten sei das noch komplizierter. "Diese Verantwortung ist schon sehr groß und erfordert viel Wissen." 

Mehr Kinder als Pflegepersonen in Frankfurt

In Frankfurt ist die Zahl der zu versorgenden Kinder höher als die Anzahl der potenziellen Pflegepersonen, wie die Stadt mitteilte. "Zudem verzeichnen wir einen Rückgang bei Bewerbungen und Nachfragen der möglichen Pflegepersonen." Gründe dafür seien unter anderem die zunehmenden Bedarfe der Kinder sowie die veränderten Erwartungen von Bewerberinnen und Bewerber an ein aufzunehmendes Kind. "Im Vordergrund steht häufig der eigene unerfüllte Kinderwunsch mit einer niedrigen „Risikobereitschaft“ gegenüber den Bedarfen des Kindes."

Ein weiterer Aspekt sei die Zunahme der multitoxischen pränatalen Schädigungen von Kindern. "Hinzu kommen die begleitenden und ungefilterten Informationsmöglichkeiten durch das Internet über mögliche Folgen von Drogenkonsum, Alkoholmissbrauch, frühkindlicher Vernachlässigung, mehrfachen Bindungsabbrüchen. Dies sorgt bei Bewerbenden für Ängste und Unsicherheiten." 

Auch hohe Mietpreise in den Ballungsräumen bei mangelndem Wohnraum und fehlende vergleichbare finanzielle Unterstützung beziehungsweise Entlastung analog zum Elterngeld für Pflegepersonen spielten eine wichtige Rolle, "insbesondere in der wichtigen Aufnahme- und Eingewöhnungszeit eines Kindes". Denn Pflegepersonen hätten keinen Anspruch auf Elterngeld für ihr Pflegekind.

Hoher Bedarf in Marburg

Auch in Marburg können nach Angaben der Stadt nicht alle Nachfragen aus dem Allgemeinen Sozialen Dienst bedient werden. Aktuell gebe es in der Stadt 37 Pflegefamilien, die voll belegt seien. "Der Bedarf ist nach wie vor hoch, vor allem für die Unterbringung von Kindern unter sechs Jahren. Schätzungsweise fehlen aktuell zwischen drei und fünf Pflegefamilien. Grundsätzlich fehlt es vor allem auch an Pflegestellen, die bereit wären, Kinder mit Beeinträchtigung aufzunehmen."

Den Mangel an Pflegefamilien führt die Stadt vor allem auf gesellschaftliche Veränderungen und hohe Anforderungen zurück. "Viele potenzielle Pflegeeltern schrecken vor der emotionalen Belastung und Verantwortung zurück, die mit einem Pflegekind einhergeht." Der städtische Pflegekinderdienst begleite Pflegefamilien intensiv und verlässlich – insbesondere in Krisensituationen – und trage damit wesentlich zur Stabilisierung der Pflegeverhältnisse bei, betont die Stadt. "Ziel ist es, das Kindeswohl durch professionelle Begleitung, Vernetzung und klare Perspektivklärung nachhaltig zu sichern."

Offenheit für Kinder und ihre Geschichte entscheidend

Ataie führt die Zurückhaltung auch auf mangelndes Wissen zurück. "Viele Menschen wissen einfach nicht, wie das funktioniert, Pflegefamilie zu werden. Oft haben wir auch gleichgeschlechtliche Paare oder alleinstehende Manschen, die uns fragen, ob sie Pflegeeltern werden können. Ja, das geht, weil bei uns der Mensch im Mittelpunkt steht." 

Wichtig sei Offenheit. "Man sollte offen sein für die leibliche Familie der Kinder. Man sollte die Lebensgeschichte der Pflegekinder verstehen, den leiblichen Eltern offen und tolerant begegnen und den Kindern eine familiäre Umgebung, einen Schutzraum bieten." Und man sollte auch offen dafür sein, Fehler mitzuteilen und gemeinsam zu wachsen, so Ataie. "Pflegefamilie ist man nicht gleich, wenn man irgendwo was unterschreibt, sondern man entwickelt sich dahin. Das ist eine Reise, die man antritt. Das braucht Zeit."

Möglichkeit, Kindern ein schönes Leben zu schenken

Es gebe Familien, die mit Schwierigkeiten zu kämpfen hätten, räumt Ataie ein. "Selbst erfahrene Pflegefamilien, die das seit Jahrzehnten machen, stoßen manchmal an ihre Grenzen." Es gebe aber auch viele Familien, in denen alles reibungslos verlaufe. 

Pflegefamilie zu sein, biete die Chance, mit den Kindern tolle Erfahrungen zu machen und sie bei ihren Entwicklungsschritten zu begleiten. "Man hat die Möglichkeit, ihnen ein schönes Leben mit einer guten Struktur, mit Freunden und Hobbys zu bieten, ihnen einen lebenswerten Lebensraum zu schenken", betont er. Dabei sei die Entscheidung für ein Kind oft eine sehr intuitive. "Es gibt Familien, die nehmen das Kind auf den Arm und der Funke springt über.".

Pflegemutter: "Liebe auf den ersten Blick"

"Es war Liebe auf den ersten Blick", sagt etwa eine Pflegemutter aus dem Schwalm-Eder-Kreis, die ihren vollen Namen nicht nennen möchte. Die 45-Jährige ist noch heute gerührt, wenn sie an den Tag vor gut fünf Jahren zurückdenkt, an dem sie und ihr Mann ihren zwei Pflegesöhnen zum ersten Mal auf dem Spielplatz begegnet sind. Damals lebten die beiden Jungs seit gut eineinhalb Jahren in einer Bereitschaftspflegefamilie. Die leiblichen Eltern lebten in Frankfurt und konnten sich nicht ausreichend um die Kinder kümmern.

Das Paar hatte sich bei der Suche nach einem Pflegekind zunächst ans Jugendamt, später an den St. Elisabeth-Verein gewandt. "Wir hatten dort ein tolles, offenes Gespräch, in dem wir unsere Zweifel und Ängste ansprechen konnten - zum Beispiel, dass wir das Kind ins Herz schließen und es dann wieder hergeben müssen, wenn die leiblichen Eltern es zurückhaben wollen." Der Verein habe ihnen diese Ängste nehmen können. "Danach war klar, wir wollen das." 

Nach einem monatelangen Bewerbungsverfahren und einem gescheiteren ersten Vermittlungsversuch nahm das Paar schließlich ihre damals zwei und vier Jahre alten Pflegesöhne auf. "Wir waren sicherlich in vielen Dingen naiv, haben einfach gemacht und nicht so viel darüber nachgedacht, was aber auch für uns immer der richtige Weg war", sagt die 45-Jährige rückblickend. 

"Beste Entscheidung unseres Lebens"

Gerade zu Beginn habe es auch Schwierigkeiten gegeben. "Die Kinder haben halt alle ihren Rucksack dabei mit ihren teilweise traumatischen Erlebnissen. Unser großer Sohn hat uns erst mal seine ganzen emotionalen Probleme vor die Füße geworfen", erinnert sie sich. "In dem Moment waren wir natürlich überfordert. Rückblickend war es aber gut, dass er uns gleich seine Probleme gezeigt hat, anstatt sich anzupassen." Auch die Besuchskontakte mit dem leiblichen Vater seien zunächst schwierig gewesen. In dieser Zeit sei der St. Elisabeth-Verein mit seiner Betreuung und seinem Schulungsangebot eine riesige Hilfe gewesen. 

"Heute sind wir in einer idealen Situation als Pflegeeltern. Es läuft inzwischen sehr gut. Es hat halt alles seine Zeit gebraucht. Man wächst da rein", sagt sie. Für diesen Weg mit all seinen Hürden brauche es die Bereitschaft. "Unser Familienleben ist ein anderes als das einer normalen Familie. Wir haben für alles gekämpft und viel dafür gearbeitet und getan, dass es funktioniert", so die 45-Jährige. "Aber es ist wirklich toll. Das ist die beste Entscheidung in unserem Leben gewesen, die wir da getroffen haben."

dpa