Partnerschaft Viele To-do-Listen, wenig Lust – wie Paare wieder Spaß am Sex finden

  • von Nina Poelchau
Nina Poelchau, systemische und emotionsfokussierte Paartherapeutin, erklärt im Interview, warum die Sexualität in vielen Beziehungen so allmählich ausstirbt, und was Paare dagegen tun können.
Nina Poelchau, systemische und emotionsfokussierte Paartherapeutin, erklärt im Interview, warum die Sexualität in vielen Beziehungen so allmählich ausstirbt, und was Paare dagegen tun können.
Sehen Sie im Video: "Einmal die Woche Sex ist schon empfehlenswert": Paartherapeutin erklärt, wie uns Sex langanhaltend gut tun kann.
Der Alltag ist oft stärker als die Leidenschaft. Dabei sind Intimität und Sex hervorragende Mittel, um abzuschalten und Kraft zu tanken. So gelingt es Paaren, wieder zueinander zu finden.

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Anita Meyer* hatte einmal eine angenehme Beziehung. Die Kinder waren aus dem Haus, mit ihrem Mann ging sie wandern, zog Gemüse im großen Garten und ungefähr einmal die Woche, meistens samstags, hatten sie Sex. "Routine-Sex", sagt sie rückblickend, "nichts Besonderes, aber eingespielt." Doch seit ihre Mutter, die 1500 Kilometer entfernt im Ausland lebt, Wahnvorstellungen bekam, geriet auch das Zusammenleben mit ihrem Mann ins Trudeln. Die 45-Jährige erzählt das in einer Selbsthilfegruppe in Oberschwaben, in der es um psychisch kranke Angehörige geht. Ihr Mann sei frustriert, weil sie oft darüber sprechen wolle, wie es mit der Mutter weitergeht, oft in Kummer und Sorgen festhänge. Sie habe keine Lust mehr auf Sex, schon gar nicht, wenn er ihr sage: "Es gibt nicht nur deine Mutter, es gibt mich auch noch." Das habe sich zugespitzt. Die Distanz sei groß. Sie schliefen jetzt fast immer in getrennten Betten. Einige in der Gruppe nicken. Sie kennen das. Erdrückende Sorgen – dann macht sich auch noch die Liebe davon.

Manches scheint die Biologie nicht gerade klug arrangiert zu haben, etwa unseren Umgang mit Sex. Wenn alles einfach ist, Menschen glücklich und verliebt sind, winkt er einladend an jeder Ecke. Wenn Berührung und Nähe aber ganz besonders guttäten, weil die Zeiten so verdammt hart sind, kann er dagegen geradezu unerreichbar weit wegrücken. Bei Stress, ob durch Kriegssorgen oder Geldsorgen, durch zu viel sinnlose Arbeit oder Krankheit, vergeht vielen Menschen der Appetit auf Zärtlichkeit. Sie schotten sich ab, mauern sich ein, strahlen aus: "Lass mich bloß in Ruhe." Der eine zieht sich zurück, der andere auch. Wenn sich die dunklen Wolken nicht schnell verziehen, kann es schwer werden, wieder zueinanderzufinden.

Dabei lässt die Forschung keinen Zweifel: Intimität und Leidenschaft beruhigen und trösten. Sie sind hervorragende Mittel, um abzuschalten und Kraft zu tanken. Schon bei einer kurzen Umarmung werden Botenstoffe ausgeschüttet, die guttun: Oxytocin, Serotonin helfen, Stress abzubauen und die Bindung zu stärken. Dopamin und Endorphine wirken stimmungsaufhellend, können nachweislich sogar Schmerzen lindern. Sexualität ist eine großartige Ressource, die Paaren in schweren Zeiten hilft. Man sollte sie nutzen.

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Bei Anita Meyer sind es die Sorgen um die psychotische Mutter. Bei Marvin Leu waren es Turbulenzen in der Familie, die sein Liebesleben auf Talfahrt schickten. Vor zwei Jahren spürte er: "Jetzt geht es um richtig viel. Um mein sexuelles Leben." Sex sei einer der wichtigsten Bereiche in seiner Beziehung, sagt er, Hauptberuf: Sachbearbeiter bei der Polizei. Gerade lernt er einen zweiten Beruf: Sexualtherapeut. Leu und seine Partnerin Magdalena leben bei Waldshut im Schwarzwald, beide sind Anfang 30; sie kennen sich seit Jugendzeiten. Als in schneller Folge vier Kinder kamen, passierte der Klassiker: Sie war abends total erschöpft. Er wollte sie spüren. Sie wünschte sich nur Ruhe, auch von ihm. Er fühlte sich zurückgewiesen. Marvin Leu wollte herausfinden, was gerade schieflief, las Bücher über Erotik und Sexualität, meldete sich zur Fortbildung in Sexualtherapie an. Und lernte: "Wir haben uns immer attraktiv gefunden, aber wie man Sexualität entwickelt, die auch Spaß macht, wenn es überall brennt – davon hatten wir keine Ahnung." Heute haben sie diese Ahnung.

Erschienen in stern 51/2023