Die Sonne scheint Sebastian Hoos ins Gesicht. Er setzt seine Ray-Ban-Sonnenbrille mit den blauen Gläsern auf die Nase und streicht sich kurz über sein Kinn, auf dem braune Barthaare sprießen. "Als Erstes ist meine Periode ausgeblieben, dann kamen die Haare und zuletzt habe ich die Fettverteilung gemerkt", erinnert er sich an die Zeit, als er mit den Hormonen anfangen durfte. Seit vier Jahren lässt sich der 29-Jährige aus der Nähe von Aschaffenburg Testosteron spritzen. Denn auf die Welt gekommen ist er als Gina, als biologische Frau. Schon sein Leben lang habe er sich im falschen Körper gefangen gefühlt. "Jetzt fühle ich mich endlich wohl", sagt er. Was ihm noch fehlt, ist die Namensänderung – die letzte Hürde auf seinem langen Weg.
Als Kind musste er Kleider tragen
"Es müssen 51 Prozent gewesen sein, die entschieden haben, dass ich ein Mädchen werde", sagt Sebastian, der als Produktionsmitarbeiter in einer Kontaktlinsen-Fabrik arbeitet. Schon als Kind habe er kein Interesse an Puppen gehabt "und wenn wir Mutter-Vater-Kind gespielt haben, wollte ich immer der Vater sein", erzählt der 29-Jährige. Seine Eltern hätten ihm damals gerne Kleider angezogen – und die musste er auch anlassen. Sein Vater habe darauf bestanden. "Ich konnte mich nicht ausleben, wie ich wollte, weil man optisch immer diesem Mädchen entsprechen musste", bedauert Sebastian. Heute trägt er Sneakers, ein lilafarbenes Shirt und eine Kappe mit dem Logo der LA Dodgers. Und auch sonst ist optisch kaum noch etwas von Gina zu sehen. Wieso er sich für den Namen Sebastian entschieden hat, weiß er selbst nicht so genau.

"Als ich angefangen habe, Playstation zu zocken, habe ich jeden Charakter schon immer so genannt", erinnert er sich. Der Name habe sich eingebrannt. Auch wenn er unterbewusst schon zu Sebastian tendiert hat, habe er lange Zeit versucht, seine Gefühle zu unterdrücken: "Ich habe mir eingeredet, dass das nicht sein kann. Dass ich 'normal' sein müsste." Mit Beginn der Ausbildung habe der 29-Jährige – damals noch Gina – zum ersten Mal offen dazu gestanden, dass er auf Frauen steht. "Zu meiner Ausbilderin habe ich sogar gesagt, dass ich mich nicht als Mädchen fühle", berichtet er. Mit 18 Jahren lernte Sebastian seine erste Freundin kennen. Und die Rollen waren von Anfang an klar: "Sie hat mich schon immer als Mann gesehen." Sie habe ihn so akzeptiert, wie er sein wollte und sei super damit umgegangen.
Transsexualität war in seiner ersten Beziehung eine "Komfortzone"
Sebastian zündet sich eine Zigarette an und verstummt kurz. "Sie hat aber auch eine schwere Zeit mit mir durchgemacht", sagt er dann. Nach wie vor sei er unzufrieden mit seinem Körper gewesen und habe viel mit sich gehadert. Nach der Trennung entschied Sebastian sich, die Geschlechtsangleichung anzugehen. "Vorher war ich zu faul", gibt er zu. Doch plötzlich fiel die Partnerschaft – eine Komfortzone, in der immer alles in Ordnung gewesen sei – weg. Sein Entschluss stand fest, auch wenn ihn der lange und aufwendige Prozess dahinter erst einmal abschreckte. Vier Jahre lang habe er jeden Samstag zu einer Gruppentherapie-Sitzung erscheinen müssen. "Mit anderen Menschen, die aber nicht dieselben Probleme hatten wie ich. Damit konnte ich mich gar nicht identifizieren", erzählt Sebastian.
Besonders da er sich selbst nie als "krank" angesehen oder das Bedürfnis nach psychischer Unterstützung verspürt habe. Doch eine psychologische Begleitung und ein anschließendes Gutachten ist die Grundvoraussetzung, um mit der Hormontherapie – der Beginn der Geschlechtsangleichung – starten zu dürfen. Die Gesamtzahl transsexueller Menschen in Deutschland lässt sich nicht genau bestimmen. Es gibt weder Zählungen noch einheitliche Definitionen. Die Deutsche Gesellschaft für Transidentität und Intersexualität e.V. geht, angelehnt an eine repräsentative Befragung aus den USA, von mindestens 0,6 Prozent der Bevölkerung aus, was etwa 500.000 Menschen entspräche.
"Meine Eltern waren lange Zeit meine größte Angst"
Seine Eltern erfuhren als Letztes von Sebastians Entscheidung. "Das war lange Zeit meine größte Angst", gesteht er. Als Einzelkind habe er immer eine gewisse Erwartungshaltung auf sich lasten gespürt. "Wenn sie mich nicht mehr akzeptiert hätten, wäre ich ganz allein gewesen." Doch Mutter und Vater hätten im Gegensatz zu seinen Erwartungen sehr cool reagiert. Genau wie damals, als er ihnen eröffnet hatte, dass ihre Tochter Gina auf Frauen steht. "Das war sonntags beim Schweinebraten", erinnert sich Sebastian und muss grinsen bei der Erinnerung.

Wollen Sie nichts mehr vom stern verpassen?
Persönlich, kompetent und unterhaltsam: Chefredakteur Gregor Peter Schmitz sendet Ihnen jeden Mittwoch in einem kostenlosen Newsletter die wichtigsten Inhalte aus der stern-Redaktion und ordnet ein, worüber Deutschland spricht. Hier geht es zur Registrierung.

Er habe bis heute ein gutes Verhältnis zu seinen Eltern. "Eigentlich waren sie immer sehr locker, aber über manche Dinge kann ich mit ihnen einfach nicht reden“, sagt der 29-Jährige. Sein Outing habe er sich viel schlimmer vorgestellt, auch in seinem kleinen Heimatdorf, in dem jeder den jungen Mann kennt. "Die Leute freuen sich, wenn sie mich auf der Straße sehen", erzählt er. Eine Bekannte habe kürzlich sogar zu weinen angefangen, weil sie sich so gefreut habe, dass Sebastian seinen Weg gegangen ist.
Namensänderung ist teuer und kompliziert
Im Jahr 2020 wurden in Deutschland laut statistischem Bundesamt 2155 operative Geschlechtsangleichungen durchgeführt. Die Tendenz ist steigend. Zehn Jahre vorher waren es mit 883 deutlich weniger Eingriffe. Einer vollständigen Geschlechtsangleichung will Sebastian sich jedoch nicht unterziehen. "Ich möchte nur meine Brüste entfernen lassen, das andere ist mir zu aufwendig und auch zu gefährlich", sagt der 29-Jährige.
Was ihm dann noch fehlt, ist die Namensänderung. Dahinter steckt ein langwieriger Prozess, der den Produktionsmitarbeiter zur Verzweiflung bringt. Auch dafür braucht es Gutachten von zwei unterschiedlichen Psychologen oder Psychiatern, "die auf Grund ihrer Ausbildung und ihrer beruflichen Erfahrung mit den besonderen Problemen des Transsexualismus ausreichend vertraut sind." So steht es im Transsexuellengesetz (TSG). "Ich finde es schlimm, dass man sich bei zwei fremden Menschen noch einmal komplett öffnen muss und sie am Ende über dein Leben entscheiden", sagt Sebastian. Die beiden Schreiben, die ihn bis zu 2000 Euro kosten, müsste er ans Gericht senden, welches dann den finalen Beschluss fällt.
Leben als Trans-Mensch: "Ich hatte sie vorher nie wirklich glücklich gesehen"

Bis dahin ist in offiziellen Dokumenten wie auch im Computer-System auf der Arbeit weiterhin Gina als Vorname eingetragen. "Das ist für die Leute verwirrend und ich muss mich dann gezwungenermaßen outen", ärgert sich der 29-Jährige. Solche Probleme soll das sogenannte Selbstbestimmungsgesetz beseitigen. Die neue Regelung soll es transgeschlechtlichen, intergeschlechtlichen und nicht-binären Menschen ermöglichen, ihren Geschlechtseintrag durch eine einfache Erklärung beim Standesamt ändern zu lassen. "Das Transsexuellengesetz stammt aus dem Jahr 1980 und ist für die Betroffenen entwürdigend", sagte Bundesfamilienministerin Lisa Paus Ende Juni. Das Selbstbestimmungsgesetz soll das veraltete TSG ablösen. Das aktuell geltende Recht behandele betroffene Personen wie Kranke, fügte Bundesjustizminister Marco Buschmann hinzu.
Männliche und weibliche Anteile
"Wenn die Namensänderung und die OP durch ist, bin ich vollends zufrieden", sagt Sebastian. "Aber schon jetzt mag ich mich so wie ich bin." Auch wenn er von männlichen Freunden sich ab und an Sprüche anhören musste wie: "Du bist nicht männlich. Du weinst zu viel und singst beim Autofahren." Solche Aussagen hätten ihn vor einigen Jahren noch extrem an sich zweifeln lassen, inzwischen kann er gut damit leben. "Ich sehe mich als Mann, aber ich habe manchmal diesen weiblichen Touch", sagt er. "Das ist aber völlig in Ordnung, weil ich damit beide Sichtweisen habe." Bei vielen Männern störe es ihn zum Beispiel, dass sie Frauen als reine Sex-Objekte betrachten. "Damit habe ich ein gewaltiges Problem und deshalb wahrscheinlich auch mehr weibliche Freunde", erzählt der 29-Jährige.

Die Trennung von seiner ersten Freundin bezeichnet er im Rückblick als "das Beste, was uns passieren konnte". Die beiden verstehen sich besser als je zuvor. Mit dem elfjährigen Sohn der Ex-Freundin, den Sebastian nun schon seit zehn Jahren kennt, verbringt er nach wie vor viel Zeit. "Wir haben ihn zusammen großgezogen. Er ist mein ganzer Stolz", sagt der 29-Jährige. Die Beziehung zu seiner Ex-Freundin habe ihn reifen lassen. "Ich war danach viel allein und hatte Zeit, über alles nachzudenken", erzählt er.
Lieber zuhause entspannen als auf dem CSD tanzen
Sebastian sei entspannter und offener geworden. Sowohl im Umgang mit sich selbst als auch mit anderen: "Als Mädchen habe ich mich nie hübsch gefühlt. Jetzt finde ich mich zum ersten Mal schön." Ob andere Leute möglicherweise hinter seinem Rücken über ihn herziehen, kümmert ihn nicht mehr. Früher sei er gerne um die Häuser gezogen, heute bleibt er am liebsten Zuhause und schaut Dokus über die DDR. "Das ist mir lieber, als ständig mit Leuten diskutieren zu müssen", sagt er, während er seine Zigarette im Aschenbecher ausdrückt.
Vor ein paar Jahren noch habe er sich nach Aufmerksamkeit gesehnt, heute will er möglichst nicht mehr auffallen. "Ich will als Mann leben, nicht als Transsexueller", sagt er. Deshalb hält er auch nicht viel von Pride-Umzügen und großen LGBTQ+-Events. "Vom Pride Month bin ich auch kein großer Fan. Das nutzen Unternehmen eh nur aus, um Kohle zu scheffeln", findet der 29-Jährige. Sebastian wünscht sich, dass solche Themen in unserer Gesellschaft schlichtweg zu einer Selbstverständlichkeit werden: "In der heutigen Zeit sollte es diese Geschlechtertrennung nicht mehr geben. Wir sind doch sowieso alle gleich."
Quellen: "Ärzteblatt", Bundesministerium der Justiz, Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Deutsche Gesellschaft für Transidentität und Intersexualität e.V., Statista