Als das Todesurteil gefällt ist, brauchen sie nicht lange nach einem Vollstre cker zu suchen. Ferit muss es tun, das ist allen klar im Stammesrat der Schigo. Schließlich geht es um seine Schwester. Mit 17 Jahren hat er das perfekte Alter für einen Mörder: Die Pistole kann er schon halten wie ein Mann, aber vor dem Gesetz ist er noch ein Kind. Zwei, drei Jahre wird er bekommen, wenn sie ihn schnappen, höchstens. Und er wird ein Held. Im Gefängnis werden die anderen ihm aus Respekt die Schuhe putzen. Reißen werden sich die Mädchen von Budakli um einen wie ihn. Bis hierher, nach Istanbul, haben sie ihn geschickt, der Vater und die anderen Männer. Der Bruder hat alles vorbereitet. Jetzt ist er dran. Er muss die Schwester töten, die solche Schande über die Familie gebracht hat.
Der erste Schuss trifft Güldünya Tören in den rechten Oberschenkel. Sie hat noch versucht wegzurennen, als sie den Bruder die Straße herunterkommen sieht. Doch sie ist nur bis zum Bordstein gegenüber gekommen. Dann schießt Ferit. Güldünya greift sich ans Bein und sinkt langsam zu Boden. Ferit sieht, dass seine Schwester noch lebt, und setzt ihr nach.
Doch der alte Imam ist schneller bei ihr. Schützend wirft Alaattin Ceylan sich über die blutende Frau. Als der Junge neben den beiden steht und zum zweiten Mal abdrücken will, packt der Imam ihn am Arm und reißt ihn zu Boden. Wäre er nicht gewesen - Güldünyas kleiner Bruder hätte seinen Auftrag schon an diesem Nachmittag zu Ende gebracht.
Er hält den Lauf der Pistole an ihren Kopf und drückt ab
14 Stunden später hat der Imam den Kampf um Güldünyas Leben verloren. Bis weit nach Mitternacht haben Ferit und sein älterer Brüder Irfan im Garten des Krankenhauses gelauert. Um 4.15 Uhr steht Ferit neben dem Bett der Schwester. Er hält den Lauf der Pistole an ihren Kopf und drückt ab. Zwei Schüsse hallen über den Korridor der Notaufnahme. Güldünya ist tot.
Die junge Frau ist ihren Mördern nicht böse gewesen. "Ich beschwere mich nicht über meine Brüder. Ich mache ihnen keinen Vorwurf", hat sie gesagt, wenige Stunden, bevor Ferit zum zweiten Mal auf sie schoss. Bleich, mit trockenen Lippen und müdem Blick, die dunkelbraunen Haare zurückgeschlagen und einen Tropf im Arm - so lag sie da im weißen Krankenbett.
Als die Polizisten fragten, ob sie Anzeige erstatten wolle, schüttelte sie den Kopf. "Sie wusste, dass die Familie ihren Bruder Ferit zu der Tat gezwungen hatte. Sie wollte ihm keinen Ärger machen", wird der Imam später sagen. Vielleicht lag es aber auch daran, dass ihr Tod so unausweichlich schien. Die Schande, die sie über die Familie gebracht hatte, war nur mit Blut zu tilgen. Das wusste Güldünya. Das wussten alle aus Budakli, ihrem Heimatdorf im fernen Osten der Türkei.

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Aber er verstand die Welt, aus der Güldünya kam
Auch der Imam wusste es, schließlich stammte er aus dem Osten. 17 Jahre lang war er Imam von Budakli gewesen, der muslimische Dorfpfarrer. Nach Istanbul war er erst vor drei Jahren gekommen, nach der Pensionierung. Seine Muttersprache war Kurdisch, die Sprache des Ostens. Türkisch verstand der ehemalige Staatsbeamte auch mit 66 noch nicht richtig. Aber er verstand die Welt, aus der Güldünya kam. Eine Welt, in der sich der Wert einer Frau nach dem Brautgeld bemisst, das sie bei der Hochzeit einbringt: Ein bis zwei Milliarden Lira, 600 bis 1200 Euro, sind üblich - etwa so viel, wie man für eine Kuh bezahlt.
In den ärmlichen Bergdörfern Kurdistans gilt das Gesetz der Stämme. Über seine Einhaltung wacht der lokale Stammesrat. Hier entscheiden die Männer über Leben und Tod, wenn eine Frau die Ehre der Familie und des Dorfes in den Schmutz gezogen hat. Wer sich dem Urteil verweigert, wird ausgeschlossen und verspottet, lebt wie ein Aussätziger unter den eigenen Leuten. Eher wird ein Mann vom Stamm der Schigo zum Mörder, als diese Schmach zu ertragen.
Darum versuchen alle zunächst zu vertuschen, was mit Güldünya geschehen ist. Eine Zyste im Magen sei der Grund für ihre Schmerzen, heißt es im Frühjahr noch. Da arbeitet die 22-Jährige auf den Tabakfeldern im Dorf. Um eine teure Behandlung zu bezahlen, will ihr Vater sein Vieh verkaufen, kein leichter Schritt für einen armen Bauern. Doch als sich herumspricht, dass der Nachbar Servet Tas anbietet, das Geld für den Doktor vorzustrecken, beginnen die Gerüchte in Budakli.
An eine Abtreibung ist im fünften Monat nicht zu denken
Die Wahrheit kommt im August nach einer 30-stündigen Busfahrt quer durch die Türkei ans Licht. Die Ärzte in Istanbul stellen schnell fest, dass die Patientin nicht an einer Zyste leidet, sondern schwanger ist. An eine Abtreibung ist im fünften Monat nicht mehr zu denken. "Wer war das?", will Güldünyas Vater wissen. "Servet Tas", antwortet Güldünya. "Meine Augen wollen dieses Mädchen nicht mehr sehen. Bringt sie weg", sind die letzten Worte des Vaters im Krankenhaus, bevor er zurückfährt ins Dorf.
Güldünya kann dorthin nicht mehr zurück. Sie bleibt in Istanbul, im Haus eines Onkels. Doch auch hier ist sie nicht sicher. Als ihr Bruder Irfan Ende August zu Besuch kommt, hat er den Strick schon mitgebracht. Ohne Widerstand geht sie mit ihm in den Keller. So, als glaubte sie selbst, den Tod verdient zu haben. Doch als der Bruder die Schlinge knoten will, versagen ihm die Hände den Dienst. Immer wieder entgleitet ihm das Seil, so sehr zittert er.
"Ich kann dich nicht töten. Ich schaffe es nicht", schreit er und fleht sie an: "Mach es selbst und rette uns alle." Da nimmt Güldünya das Seil, knüpft selbst den Henkersknoten und gibt dem Bruder den Strick zurück. "Mir war, als würde ich den Tod eines anderen Menschen vorbereiten", wird Güldünya später der Familie des Imam sagen. Als der Bruder den Keller verlässt, weil die Situation für ihn unerträglich geworden ist, kriecht Güldünya durch ein Fenster nach draußen und entkommt.
Zwei Tage später liest der Imam sie auf einer Polizeiwache auf. Güldünya hat den Beamten seinen Namen gegeben. "Als sie bei uns ankam, besaß sie nichts als die Kleider, die sie auf dem Leib trug", sagt der alte Mann. "Sie war ein Bauernkind. Das Leben in der Stadt war ihr fremd. Sie war ein gutes Mädchen."
"Ich habe unter der Erde gelebt"
Der Imam behandelt Güldünya wie eine Tochter. "Gül", die Rose, nennt seine Familie sie bald liebevoll. Hier bekommt sie neue Kleider, Schutz und Wärme. Die Tocher des Imams wird zu ihrer besten Freundin. Seine Frau zeigt ihr, wie sich eine gute Muslimin vor dem Gebet zu waschen hat, denn das hat sie zu Hause nie richtig gelernt. Abends legt Gül gern den Kopf in ihren Schoß. "Du bist meine richtige Mutter", sagt sie dann manchmal. "Bevor ich zu euch kam, war meine Welt so klein. Ich habe unter der Erde gelebt."
Elf Kinder, die Eltern und acht Kühe leben bei ihr zu Hause unter einem Dach, die Menschen oben, die Tiere unten. Gut 700 Menschen leben in Budakli, und selbst junge Erwachsene sehen hier aus wie 40-Jährige. Güldünya hat mit ihren 22 Jahren bereits harte, stumpfe Züge und schwere Hände von der Arbeit.
Ein Hektar gutes Ackerland für den Tabakanbau gehört ihrer Familie. Die Winter dauern häufig bis zum Mai. Und Istanbul - das ist für junge Frauen wie Güldünya kaum mehr als die Märchenstadt mit langen Brücken und prächtigen Moscheen auf dem bunten Wandteppich im Wohnzimmer des Elternhauses.
Angst vor der Rache ihrer Familie
Umso mehr gefällt Gül die neue Umgebung. Sie genießt die frische Meeresluft, das gute Essen und das warme Wasser aus der Leitung. Aber die Angst vor der Rache ihrer Familie lässt sie nicht ruhen. Und sie sorgt sich um die Zukunft ihres ungeborenen Kindes.
Von Istanbul sieht Güldünya nicht viel. Die Dreizimmerwohnung im vierten Stock verlässt sie monatelang kaum. Weiter als zum Markt, ein paar Straßen entfernt, geht sie nie. Wenn sie allein auf dem Balkon steht, schickt die Frau des Imams eines der Kinder hinterher - aus Furcht, Gül könnte springen.
Auch der Imam weiß: Die Gefahr ist nicht vorbei. In einem Dorf in Kurdistan ist der Frieden gestört. Noch ahnt niemand in Budakli, dass Güldünya bei ihm untergekommen ist. Doch das kann nicht ewig so bleiben. Wenn er sie retten will, muss er etwas tun.
Nur einer will nicht: Servet
Einen Monat nach ihrer Ankunft ruft der Imam Güldünyas Vater an. "Unternehmt nichts", bittet er ihn. "Ich komme zu euch. Ich werde Frieden schaffen im Dorf." Der alte Mann hat eine Idee: Zehn Milliarden Lira Brautgeld, rund 6200 Euro, soll Güldünyas Familie bekommen. Dafür soll Servet Tas, der Vater ihres Kindes, sie zur Zweitfrau nehmen und mit ihr aus Budakli verschwinden - für immer. Alle sind einverstanden, der Stammesrat, Güldünyas Familie und die von Servet Tas. Güldünyas Vater und Servets Bruder reisen zusammen nach Istanbul, um die Hochzeit zu arrangieren. Auch Güldünya ist bereit. Nur einer will nicht: Servet.
Servet Tas, 28 Jahre alt, Nachbar und Freund der Tören-Familie, ehemaliger Koranschüler des Imams, Ehemann von Güldünyas Cousine und Vater dreier Kinder, stellt sich quer. Er leugnet, was doch alle wissen: dass er Güldünya geschwängert hat. "Servet Tas hat mich gezwungen", hat sie dem Imam erzählt. Das Wort "Vergewaltigung" wollte sie nicht aussprechen, schon so ist die Schande unerträglich für sie gewesen. Servet hat genau gewusst, was er Güldünya antat. Und jetzt, wo er ihr Leben retten kann, kneift er. "Ich bin nicht der Vater", lässt er ausrichten aus Istanbul, wo er als Kellner jobbt. "Macht doch einen Gen-Test, wenn ihr wollt." Als sein Bruder ihn zur Rede stellt, läuft er davon. Seither kann auch er nicht mehr ins Dorf zurück.
Umut, Hoffnung, nennt Güldünya ihren Sohn. Am 1. Dezember bringt sie ihn im Haus des Imams zur Welt. Die Frauen der Familie und eine Hebamme helfen bei der Geburt. "Er ist die Wurzel meines Elends", sagt die junge Mutter. Sie stillt ihn, aber sonst will sie nichts mit ihm zu tun haben. Erst nach und nach entdeckt sie ihre Liebe zu dem Kind.
Güldünyas Vater kommt nach Istanbul. Der Imam hat ihm von der Geburt erzählt. Tagelang läuft er durch die Stadt und sucht nach Servet Tas. Doch der ist untergetaucht. "Gib das Kind weg. Wir wollen es nicht", sagt der Vater zum Imam. "Für meine Tochter werde ich eine Lösung finden." Schließlich meldet sich Servet Tas. Er hat von der Geburt des Kindes erfahren. Doch statt zu helfen, droht er. "Ich werde Güldünya töten, denn sie hat mein Leben zerstört", sagt er einem Sohn des Imams am Telefon. Die Anrufe häufen sich.
Mitte Januar beginnt Umut sie anzulächeln
Mitte Januar beginnt Umut sie anzulächeln. Da weiß Güldünya, dass es Zeit ist, sich von ihm zu trennen. Sonst hat er im Leben keine Chance. Außerdem könnten Servet oder die Brüder ihm etwas antun. Ein kinderloses Paar, das der Imam seit langem kennt, nimmt Umut bei sich auf. Sieben Wochen ist er alt. Güldünya kann vor Kummer tagelang nichts essen.
"Wir haben eine Lösung gefunden. Nach Hause kann Güldünya nicht. Aber wir werden sie bei einer Tante unterbringen. Nächste Woche kommt ihr Bruder Irfan vorbei und holt sie ab." Die Nachricht, die der Vater Mitte Februar überbringt, klingt zu gut, um wahr zu sein. Drei Tage lang bleibt er zu Gast im Haus des Imams. Die Tochter würdigt er keines Blickes. Bevor der Vater abreist, holt der Imam deshalb den Koran aus dem Regal. Vor Zeugen lässt er Güls Vater schwören, dass er ihr nichts antun wird. Die Hand auf dem Koran, verspricht er: "Nein, ihr wird nichts passieren." Vier Tage später kommt Irfan.
Irfan hat es eilig. Für den Abschied aus Istanbul putzt sich Güldünya heraus, mit neuem Kleid und neuen Schuhen. Die Nachbarn sagen Lebewohl. Dann bleibt noch Zeit für Essen und Gebet. Als die junge Frau ihre Sachen packen will, sagt der Bruder, sie brauche nichts mitzunehmen. Der Imam wird misstrauisch. Doch der Schwur des Vaters hält ihn davon ab, etwas zu sagen.
In der Hand eine Pistole
Der Weg zur Bushaltestelle führt steil bergauf. Irfan ist dem Imam und seiner Schwester immer ein paar Schritte voraus. Als sie die Kanarya-Straße erreichen, sagt er, er müsse Taschentücher kaufen, und verschwindet. Da sieht Güldünya, wie ihr anderer Bruder Ferit auf sie zukommt, in der Hand eine Pistole. Sie beginnt zu rennen.
"Ich habe Güldünya ein halbes Jahr beschützt. Der Staat schaffte es nicht mal einen Tag", sagt der Imam, als ihn die Nachricht von Güldünyas Tod erreicht. Während Ferit und Irfan vor dem Krankenhaus auf der Lauer lagen, saß der Alte noch auf der Polizeistation. Die Polizisten wollten protokollieren, was am Nachmittag in der Kanarya-Straße passiert war. Um Güldünyas Brüder kümmerte sich keiner. "Wir können nicht jedem Verletzten, der in ein Krankenhaus eingeliefert wird, einen Polizisten ans Bett stellen", sagte der Polizeipräsident von Istanbul später.
"Wenn Güldünya zu uns gekommen wäre, würde sie noch leben", sagt Menekse Bas, Leiterin eines Schutzhauses für Frauen, die von ihren Familien bedroht werden. Das Heim liegt im selben Stadtteil von Istanbul, in dem die 22-jährige Kurdin beim Imam Unterschlupf gefunden hatte. Solche Einrichtungen sollen in jeder Gemeinde mit mehr als 7500 Einwohnern vorhanden sein, empfiehlt eine Kommission des Europarates. Doch bisher gibt es nur gut ein Dutzend davon im Land, weil konservative Politiker fürchten, dass solche Einrichtungen Familien zerstören.
Frauenhäuser müssen mit Schließungen rechnen
Selbst in Istanbul müssen solche Frauenhäuser immer mit der Schließung rechnen. Seit die Islamisten von Premierminister Tayyip Erdogan Ende März die Kommunalwahlen in dem Bezirk gewonnen haben, in dem das Heim von Menekse Bas liegt, fürchten die Frauen dort jeden Tag, dass man ihnen diesen Zufluchtsort nehmen will. Dabei hat die Einrichtung in neun Jahren 1150 Frauen und ihre Kinder vor Verfolgern schützen können.
Nachdem die Brüder Güldünya getötet hatten, sollte ihre Leiche eigentlich verscharrt werden, irgendwo weit weg vom Dorf, so wollten es die Männer von Budakli. Doch dann lief alles anders. Plötzlich tauchte Güldünyas Bild in allen Zeitungen auf, das ganze Land war entsetzt über die Schüsse im Krankenhaus. Ein archaischer Ehrenmord mitten im modernen Istanbul - ein Skandal. Alle kannten nun das kleine Bergdorf, aus dem die Mörder kamen.
Da bekamen die Männer der Schigo Angst. Der Stammesrat entschied, die tote Güldünya heimzuholen. Das sei kein Ehrenmord gewesen, hieß es nun. Und Güldünyas Vater sagte: "Wenn Ferit und Irfan wirklich die Mörder sind, dann sind sie nicht mehr meine Söhne."
2000 Männer standen dicht gedrängt am offenen Grab
Von nah und fern riefen die Schigo ihre Leute nach Budakli zur Beerdigung - als sei die Trauer so groß wie der Trauerzug lang. 60 Autos folgten Güldünyas Sarg. 2000 Männer standen dicht gedrängt am offenen Grab, mit versteinerten Mienen. Die Frauen des Dorfes durften nur von fern zusehen. Weinkrämpfe schüttelten Güldünyas Mutter.
Fremde Hände legten die in weißes Tuch gehüllte Tote zu Füßen einer Eiche ins rostrote Erdreich. Kein Verwandter wollte die Leiche berühren. Auch den muslimischen Segen verweigerten sie ihr. Güldünya blieb eine Ausgestoßene, selbst im Tod.
In Istanbul trugen sie Güldünya wenige Tage später noch einmal symbolisch zu Grab. "Männer morden, und der Staat schützt die Mörder", stand auf den Anstecknadeln der Frauen im Protestzug mit dem leeren Sarg. Sie demonstrierten gegen einen Gesetzentwurf, der seit langem im türkischen Parlament diskutiert wird.
Ehrenmorde werden darin noch immer als "Verbrechen gegen die Gesellschaft" bezeichnet: Den Schaden hat nicht die tote Frau, sondern ihre Familie. Wenn die Mörder das Gericht davon überzeugen können, dass sie durch das unsittliche Verhalten ihrer Opfer zur Tat getrieben worden seien, dann gilt das als "ungerechte Provokation". Das mildert eine Strafe um bis zu drei Viertel. Und es liegt im Ermessen der meist konservativen Richter, was sie für unsittliches Verhalten und ungerechte Provokation halten.
Die Brüder werden verhaftet
Anfang April hat die Polizei in Istanbul die Brüder Ferit und Irfan verhaftet. Vor Gericht behauptete Ferit, er habe den Mord an seiner Schwester allein geplant und ausgeführt. "Als wir sie zur Tante bringen wollten, sagte sie uns, sie wolle lieber in Istanbul als Prostituierte arbeiten", erzählte er dem Richter. So habe sie ihn zur Tat getrieben. Irfan verweigerte die Aussage. Im Haus des Istanbuler Onkels fand die Polizei eine 7,65-Millimeter-Pistole, vermutlich die Tatwaffe. Jetzt wird auch nach dem Onkel gefahndet.
Nach all den Berichten dringt das ganze Land auf harte Strafen. Erst wenige Wochen ist es her, dass ein Richter in einem ähnlichen Fall zum ersten Mal den Täter und sieben Mitglieder eines Stammesrates verurteilt hat. Zusammen bekamen sie 150 Jahre.
In Budakli ist kein Frieden eingekehrt. Güldünya ist nicht gerächt, solange Servet Tas ein freier Mann ist. "Wenn wir wollen, können wir ihn töten. Wir Törens haben viele Männer", sagt Burhan, ein älterer Bruder Güldünyas. "Wir leben hier für unsere Ehre. Für sie würden wir alles tun." Die Törens haben ein Mitglied ihrer Familie umgebracht, nun erwarten sie von der Familie Tas, dass sie dasselbe tut.