Wohnen in Hongkong Eine Frage der Enge

Von Matthias Schepp
Frieden und Wohlstand findet in Hongkong auf 18 Quadratmetern statt. In dieser Enge wohnt die Familie Ming mit vier Personen - und fühlt sich "unsagbar glücklich in ihrem Paradies". Eine Wohnungsbegehung.

Das Haus des Freudigen Reichtums verheißt ein Leben in Frieden und Wohlstand so wie die anderen Gebäude, deren chinesische Namen übersetzt Hof des Eleganten Gentleman, Siegesturm oder Garten mit Königlicher Aussicht heißen. Die königliche Aussicht jedoch besteht aus einem Dutzend anderer Wohnblocks, mal fünfzig, mal sechzig Stock hoch. Sie gleichen einander wie eineiige Architekturzwillinge. Endlose Bienenwaben. Der Hongkonger Hochhaus-Dschungel lässt die Plattenbauwüste von Berlin-Mahrzahn beinahe als Idylle erscheinen.

Selbst bei schwülen 35 Grad frösteln westeuropäische Reisende für einen Moment, wenn sie die schmutzig-grauen Fassaden der Betonklötze sehen. So viel Enge, so viel kalte Anonymität. Das Haus des Freudigen Reichtums zählt 37 Stockwerke, jedes beherbergt zwischen sechzig und hundert Wohnungen. Der Bau fasst 3000 Familien, eine Wohnmaschine. Dort zu leben, muss die Hölle sein, denken Europäer.

"Unsere Wohnung ist unser Paradies. Wir sind unsagbar glücklich", lächelt die kleine Frau Ming aus dem siebenundzwanzigsten Stock. Die 48-jährige arbeitet als Altenpflegerin, ihr Mann als Busfahrer. Die beiden Söhne, 20 und 18, studieren Betriebswirtschaft und zum Urlaub war die Familie jüngst im teuren Japan - eine Mittelstandsfamilie.

Die Mings aber hausen auf gerade achtzehn Quadratmetern. Wie bei den meisten Hongkongern muss ihr Wohnzimmer auch als Schlafzimmer herhalten. Die beiden Söhne teilen sich ein Etagenbett. Waiho, der jüngere, liegt unten und hat an der Wand noch ein Regal für seine Comicsammlung angebracht. Vor den hinteren Teil der Wand füllenden Schrankwand hat Mutter Ming vier aufklappbare Plastikkisten mit Unterwäsche, Socken und T-Shirts gestapelt. "Wir müssen sie nur zweimal im Jahr verrücken, einmal wenn wir unsere Wintersachen wegpacken und dann im November, um sie wieder rauszuholen", erklärt sie. Dann riecht es für einige Tage nach Mottenkugeln, nicht nur in der Wohnung der Mings, sondern auf der ganzen Etage, im ganzen Wohnblock und auch in den doppelstöckigen Bussen und der U-Bahn. Denn auch die anderen sechseinhalb Millionen Hongkonger haben ihre Pullover, Mützen und Mäntel ausgepackt.

Hongkong, wo Menschen so eng aufeinander kleben wie nirgendwo sonst auf der Welt, hat keinen Platz zu verschenken. Es besteht aus kleinen Inseln mit steilen Felsen, die nicht zur Bebauung taugen. Außerdem erschließt die Regierung Bauland nur langsam, um die Immobilienpreise künstlich hochzuhalten und die Vermögen weniger Tycoons zu schützen. Ihnen, die zu den reichsten Männern der Welt zählen, gehört die halbe Stadt.

Küche und Bad der Familie Ming sind zusammen gerade so groß wie eine Abstellkammer in München. In den Sommermonaten, wenn Taifune durch die Hochhausgassen peitschen und die Luftfeuchtigkeit unerträglich wird, fährt Frau Ming zweimal in der Woche zum Wäschetrocknen durch die ganze Stadt. Denn die Großmutter hat eine Trockenmaschine. "Auch wir könnten uns eine leisten, aber wir haben keinen Platz", sagt Frau Ming. Das soll keine Klage sein. Hongkongern ist Selbstmitleid fremd. Sie sind groß darin, aus jeder Situation das Beste zu machen. Auch aus 18 Quadratmetern für vier erwachsene Menschen.

In die anderthalb Zentimeter zwischen der Zimmerwand und der Wasserleitung, die wie alle Rohre in Hongkongs Wohnsilos offen liegen, klemmt Frau Ming die Hausschuhe der Familie. Um den unteren Teil des Rohres hat sie dünne Plastikbänder gebunden. Wer weiß, wozu sie noch zu gebrauchen sind, wenn das nächste Mal jemand verreist. "Wir sind stolz auf den Fortschritt unserer Stadt und unserer Familie", sagt Frau Ming.

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Als Kind lebte sie auf einem Drittel der Fläche

ihrer heutigen Wohnung, auf weniger als sechs Quadratmetern – zu zehnt mit Vater, Mutter und sieben Geschwistern. Klo und Küche waren auf dem Gang. Das war die Zeit, als Hongkong, das ehemalige malariaverseuchte Fischerdorf, unaufhaltsam zu einer der dynamischsten Metropolen der Welt aufstieg, erst Kleider herstellte, dann billige Elektronik.

Von damals hat sich Mutter Ming ein Talent eingebrannt, das Hongkonger Familien von Generation zu Generation gleichsam genetisch vererben: Nichts zu verschwenden, kein Geld, keinen Platz. Hongkonger können nichts wegwerfen. Ihre Sparsamkeit geht so weit, dass sie einen Kaugummi nicht auf den Boden spucken, sondern lieber verschämt in eine Mauerritze kleben. Natürlich kann man ihn nicht noch einmal verwenden, trotzdem sollen die anderen die Verschwendung nicht sehen.

In der Küche der Familie Ming hängen ein Fisch und rosa Handschuhe von einem Kleiderbügel über dem Gasofen, beide zum Trocknen. Das ist nicht schön, aber praktisch. Und nur darauf kommt es an. Hongkonger reduzieren Gegenstände, ja selbst die Götter, die sie verehren, auf das Wesentliche. Vor der Tür des Nachbarn steht Caishen, der Gott des Geldes, nur halb ausgepackt in einer roten Tüte. Bloß der Kopf schaut heraus. Hauptsache aber die Augen der Holzfigur können die eilig auf den Kachelboden gelegten Opfergaben sehen, Mandarinen und Räucherstäbchen. Keine Zeit, um einen schönen Altar zu errichten. Von der Ästhetik ihrer asiatischen Nachbarn, der Japaner und Thailänder, sind die Hongkonger Lichtjahre entfernt. Niemals würden sie ein Restaurant nach der Schönheit der Einrichtung oder der Sauberkeit auswählen. Es geht ihnen allein um die Qualität des Essens.

Alles was nicht direkt auf dem gewünschten Resultat dient

, blenden sie aus. Deshalb findet Frau Ming ihre "Wohnung gemütlich wie ein Schloss", auch wenn der Korridor, der zu ihr führt, an ein Großgefängnis in einem Dritte-Welt-Land erinnert. Schmutzige Wände, unterbrochen von wuchtigen Eisengittern, den Wohnungseingängen. Sie wirken wie eine Warnung, dass der kleine Rest Intimität von den meisten nicht kampflos aufgeben wird. Wenn das Ehepaar Ming miteinander streitet, drehen sie den Fernseher so laut, dass die Nachbarn nicht hören, worum es geht. Die anderen auf dem Flur machen es genauso.

Aber jeder bekommt mit, wenn die Nachbarstochter schwanger ist. Alle zerreißen sich den Mund darüber, dass der Teenager am Ende des Ganges die Haare "braun wie Tee gefärbt" hat. Keine Spur von Anonymität. Die Nachbarn wissen alles. Anders als Europäer genießen die Hongkonger das Gefühl extremer Nähe. Sie ziehen nicht weg aus den Plattenbauten, obwohl Einfamilienhäuser mit doppelter Wohnfläche im Grenzland zu China oft weniger kosten. Denn Hongkongs gewaltige Wohnblocks sind letztlich moderne Dörfer. Auf dem Drahtzaun unten im Hof trocknen einige Familien Kohl. So als sei Hongkong nicht eine Weltstadt, sondern ein Flecken irgendwo in der chinesischen Provinz. Von dort auch kommen auch die meisten der Bewohner. Sie flüchteten vor dem Zweiten Weltkrieg und Maos Kulturrevolution.

David Ng, ein Computerspezialist

, wohnt auch mit 44 noch bei seinen Eltern. Sieben Quadratmeter sind sein Heim. Er teilt es sich mit dreizehn Computern. Neben der Matratze auf dem Hochbett lagert er Computerkabeln, eine Urinflasche, damit er nachts nicht aufstehen muss, ein auseinander geschraubtes Titanrahmen-Fahrrad und Schuhkartons mit mehr als 5000 DVDs, die er billig in China einkauft und für drei Dollar das Stück an Kunden in der ganzen Welt verschickt. Über den Türrahmen hat er Glückwunschkarten seiner Eltern zum Frühjahrs– und Mondfest geklebt. Davids Leben hängt neben dem Lichtschalter und passt in drei jeweils vier Zentimeter dicke Plastikordnern. Im ersten bewahrt er die Dokumente seiner Scheidung auf, im zweiten Rechnungen, im dritten die Buchhaltung des DVD-Geschäfts.´

Davids Hocker wird von drei Seiten von Tischen eingeschlossen. Von der Unterseite des Bettes hat er mit Draht eine Glasplatte aufgehängt, auf der er seine Sportschuhe abstellt. Weil kein Platz für ein Regal bleibt, klebt er seine Bücher mit Tesafilm an den Bettrahmen. Von seinem Hocker aber kann David durch das winzige Fenster ein kleines Stück Himmel sehen. "Nicht schlecht", sagt er.