Alexej Nawalny Tückisches Gift – was Cholinesterase-Hemmer im Körper anrichten

Putin-Kritiker Alexej Nawalny wurde mutmaßlich vergiftet – darauf weisen laut der Berliner Charité erste klinische Befunde hin. Bei dem Gift soll es sich um einen Cholinesterase-Hemmer handeln. Was ist über den Stoff bekannt? Und welche Schäden richtet er im Körper an?

In dem Fall des vor fünf Tagen mutmaßlich vergifteten Kremlkritikers Alexej Nawalny gibt es immer noch viele offene Fragen. So ist unklar, welche Substanz zu den schwerwiegenden Symptomen des kritischen Bloggers geführt hat, der am Donnerstag unter starken Schmerzen an Bord eines Flugzeugs zusammengebrochen war. Erste klinische Befunde weisen auf eine Vergiftung durch eine Substanz aus der Wirkstoffgruppe der Cholinesterase-Hemmer hin, teilte die Berliner Charité gestern mit. Nawalny befindet sich dort seit dem Wochenende in Behandlung. Der 44-Jährige liegt im künstlichen Koma, sein Zustand sei "ernst", heißt es weiter. Spätfolgen könnten derzeit nicht ausgeschlossen werden.

Cholinesterase-Hemmer sind eine große und gut bekannte Wirkstoffgruppe, die unter anderem in Pestiziden und chemischen Kampfstoffen zum Einsatz kommt. Auch gibt es immer wieder Berichte von Arbeitern in der Landwirtschaft, die sich versehentlich mit den Mitteln vergiften.

Schwerwiegende Symptome

"Cholinesterase-Hemmer blockieren ein entscheidendes Enzym, das die Übermittlung von Nachrichten zwischen Nerven und Muskeln reguliert", sagt Alastair Hay, Toxikologe und Experte für chemische Kriegsführung. In der Folge beginnen die Muskeln zu krampfen. Auch die Atmung kann betroffen sein, was die Personen bewusstlos werden lässt. Wird die Substanz geschluckt, treten zunächst Beschwerden im Magen-Darm-Trakt auf: Betroffene berichten über quälende Schmerzen, verbunden mit Übelkeit, Erbrechen und Durchfall. Über die Schleimhäute gelangt das Gift schließlich in den ganzen Körper. "Betroffene werden schwach, können nicht mehr stehen, haben Schwierigkeiten beim Atmen und Sehen, schwitzen stark und sondern Sekrete aus Nase und Lunge ab", so Hay. "Bei ausreichend großer Dosis werden die Opfer bewusstlos." Cholinesterase-Hemmer können sich auch direkt auf das Gehirn auswirken.

Alexej Nawalny
Kremlkritiker Alexej Nawalny, 44
© Pochuyev Mikhail / Picture Alliance

"Die wichtigsten chemischen Kampfstoffe – Nervengase wie Sarin, VX, Soman, Tabu, Cyclosarin – aber auch bestimmte Pestizide – E605, Chlorpyrifos – wirken so", sagt Thomas Hartung, Gesundheitsexperte an der Johns Hopkins Bloomberg School of Public Health. Ob und wie gut Betroffene die Vergiftung überstehen, hängt seiner Einschätzung nach davon ab, wie viel von welcher Substanz verabreicht und wie schnell die richtige Therapie eingeleitet wurde. Als Gegenmittel dient Atropin. Nach Angaben der Charité wird Nawalny bereits mit dem Mittel behandelt. 

Tage bis Wochen im Koma

Patienten mit Vergiftungen dieser Art würden oft in ein künstliches Koma versetzt, bis sich das Gift abgebaut habe, so der Toxikologe Hay. Dies könne – je nach verwendetem Stoff – einige Tage oder sogar Wochen dauern. Die Behandlung Betroffener könne "sehr schwierig" sein, so der Experte. "Verzögerungen tragen zu Komplikationen bei."

Unklar ist derzeit auch, wie Nawalny das Gift aufgenommen haben könnte. Ein Vertrauter berichtete, dass der Oppositionelle vor seinem Rückflug nach Moskau am Flughafen in Tomsk einen Tee getrunken hatte. Gifte mit Cholinesterase-Hemmern sind grundsätzlich flüssig und können über die Haut und Schleimhäute in den Körper gelangen. In Form von feinsten Tröpfchen – sogenannten Aerosolen – können sie auch eingeatmet werden. Gezielte Attacken auf eine einzelne Person sind auf diese Weise aber nur schwer denkbar. 

Thomas Hartung sieht auch eine Parallele zu den Gift-Anschlägen von Salisbury, Großbritannien, im März 2018. "Interessanterweise gehören auch die Nowitschok-Nervenkampfstoffe zu dieser Wirkstoffgruppe, die 2018 bei der Vergiftung des russischen Doppelagenten Skripal in England verwendet wurden. Ich habe damals gesagt, die Russen hätten auch eine Visitenkarte am Tatort liegen lassen können, da die Substanzen so klar zugeordnet werden können."

Dieses gestellte Archivbild zeigt einen sowjetischen Soldaten in einem Schutzanzug, der mit giftigen Substanzen arbeitet.
Dieses gestellte Archivbild zeigt einen sowjetischen Soldaten in einem Schutzanzug, der mit giftigen Substanzen arbeitet.
© Hans De Vreij/Hans de Vreij / DPA / AP
Nowitschok: Was ist das eigentlich?

Alexej Nawalny war am vergangenen Donnerstag während eines Flugs von Tomsk, Sibirien, nach Moskau kollabiert. Das Flugzeug musste zwischenlanden. Russische Ärzte waren zunächst von einer Stoffwechselerkrankung als Ursache der Beschwerden ausgegangen und hatten sich gegen eine Verlegung des Patienten ausgesprochen. Tests auf eine ganze Bandbreite von Substanzen seien negativ gewesen, hieß es zunächst. Am Samstagmorgen wurde Nawalny schließlich mithilfe eines gecharterten Sanitätsflugzeugs nach Berlin gebracht. Dort konnte die Wirkung des Giftstoffs "mehrfach und in unabhängigen Laboren nachgewiesen" werden, heißt es in der Mitteilung der Charité. 

Kreml-Sprecher Dmitri Peskow reagierte am Dienstag mit Unverständnis auf die "Eile" bei der Gift-Diagnose. Russische und deutsche Ärzte seien bei ihren Untersuchungen zu unterschiedlichen Schlussfolgerungen gekommen, so Peskow. "Wir verstehen diese Eile der deutschen Kollegen nicht." 

Quellen: Charité / Zitate laut Science Media Center

ikr

PRODUKTE & TIPPS