In einem Krankenhaus in der sibirischen Stadt Omsk kämpft der führende Kreml-Kritiker Alexej Nawalny um sein Leben. Er befindet sich im Koma und wird künstlich beatmet. Der Verdacht: Er wurde Opfer eines Giftanschlags. Ärzte des Krankenhauses, in dem der Politiker behandelt wird, behaupten jedoch, dass in dem Blut und Urin von Nawalny bislang keine Toxine nachgewiesen werden konnten.
Die russische Opposition ist dennoch von einer Vergiftung überzeugt. Es gebe "keine Zweifel", dass er "wegen seiner politischen Standpunkte und Aktivitäten vergiftet" wurde, schrieb der Chef der Justizabteilung des Fonds von Nawalny, Wjatscheslaw Gimadi, auf Twitter. Die Stiftung des Anwalts "Fonds zur Korruptionsbekämpfung" deckt immer wieder Fälle von Korruption und den dekadenten Lebensstil von Vertretern der russischen Elite auf, etwa den von Dmitri Medwedew.
Nawalny führt seit Jahren einen erbitterten Kampf gegen das Putin-Regime. Er ist der führende Kopf der liberalen Opposition. Bei der Bürgermeisterwahl in Moskau im September 2013 erzielte Nawalny 27 Prozent der Stimmen, trotz aller Widerstände und Manipulationen. Doch gerade jetzt ist er für den Kreml so gefährlich wie wahrscheinlich nie zuvor.
Am 13. September stehen in Russland Regionalwahlen an. 40 Millionen Russen sind dazu aufgerufen, ihre Regionalparlamente (vergleichbar mit Landtagen) und Gouverneure zu wählen. Die Wahlen will Nawalny dazu nutzen, um Putins Position zu schwächen - indem er die Partei des Kreml-Chefs "Einiges Russland" aus eben jenen Regionalparlamenten drängt und somit Putin seine Machtbasis entzieht.
Die "Intelligente Wahl" des Nawalny
Mit diesem Ziel rief Nawalny das Programm "Intelligente Wahl" ins Leben. Das Prinzip ist einfach: Anstatt auf unter Umständen hoffnungslose Kandidaten der eigenen Partei zu setzen, sollen die Bürger jene Oppositionspolitiker wählen, die die größten Chancen haben, in die Parlamente zu kommen und den Mitgliedern von "Einiges Russland" die Plätze wegzunehmen. Um zu erfahren, welche Kandidaten die beste Chance haben, können die Menschen sich für das Programm registrieren. Ein Algorithmus rechnet aus, wer dann in der jeweiligen Region der aussichtsreichste Kandidat ist.
"Es ist sehr richtig, die Ereignisse in Belarus zu verfolgen, um die Demonstranten dort in Wort, Tat und mit Geld zu unterstützen. Es ist noch richtiger, das politische Leben in Eure Städte zurückzubringen", schrieb Nawalny erst am Dienstag auf seiner Website und rief die russischen Bürger dazu auf, nicht nur nach dem Prinzip der "Intelligenten Wahl" die Stimmen abzugeben, sondern sich auch als Wahlbeobachter zu registrieren, um möglichst viele Manipulationen zu verhindern.
Auch wenn diese Methode umstritten ist, weil dadurch auch Kandidaten von extremen Parteien gewählt werden können, zeigte sie in der Vergangenheit große Erfolge. 2019 musste Putins Partei bei den Regionalwahlen herbe Niederlagen einstecken. In Moskau konnten Kandidaten der Regierungspartei etwa nur 20 der 45 Sitze im Stadtrat gewinnen. Damit verlor "Einiges Russland" hier fast ein Drittel seiner Mandate. "Jeden Verlust eines Sitzes der Vertretung von 'Einiges Russland' werden wir als Erfolg betrachten", erklärte damals Nawalny.
In diesem Jahr dürfte der Erfolg noch größer ausfallen. Putin ist so unbeliebt wie niemals zuvor. In Chabarowsk und anderen Städten des Fernen Ostens Russlands gehen die Menschen bereits seit sieben Wochen auf die Straße - jeden einzelnen Tag. Sie fordern einen gerechten Prozess für den Gouverneur Sergej Furgal und den Rücktritt Putins. Furgal soll als junger Geschäftsmann vor eineinhalb Jahrzehnten die Ermordung "mehrerer Unternehmer" organisiert haben, was er zurückweist. Demonstranten und Beobachtern gelten die Vorwürfe als Vergeltung dafür, dass Furgal 2018 gegen den Willen des Kremls gewählt worden war
Der Verdacht weckt Erinnerungen
Auch wenn sich der Kreml die größte Mühe gibt, die Proteste zu verunglimpfen oder schlicht kleinzureden, gehen tausende Menschen weiter auf die Straße. Die Proteste in Belarus heizen die Stimmung zusätzlich an. In den vergangenen Tagen nutzte Nawalny die Proteste gegen den belarussischen Diktator Alexander Lukaschenko, um die Russen zu überzeugen, bei den Regionalwahlen im kommenden Monat für Oppositionskandidaten zu stimmen. Die Angst vor Massenprotesten, die sich hinter einem charismatischen Anführer formieren, könnte den Kreml nun dazu getrieben haben, einen Giftanschlag auf Nawalny zu verüben, so die Überzeugung seiner Anhänger.
Denn auch wenn es unter diesen Bedingungen für Putins Partei im September düster aussieht: Ein Ausfall Nawalnys würde die Opposition hart treffen. Nicht nur, dass die Galionsfigur der Kreml-Kritiker fehlen würde. Allein der Verdacht auf eine Vergiftung weckt böse Erinnerungen. Etwa an Alexander Litwinenko. Der frühere russische Agent und Kreml-Kritiker starb 2006 im Exil in London an einer Vergiftung mit hochgradig radioaktivem Polonium.
Gift im Tee?
Nawalny war am frühen Donnerstagmorgen auf dem Rückflug von der sibirischen Stadt Tomsk nach Moskau. An Bord ist der Politiker dann zusammengebrochen. Das Flugzeug musste in Omsk notlanden. Im Internet wurden diverse Fotos und Videos veröffentlicht. Auf einem Foto ist er am Flughafen in Tomsk beim Trinken aus einem Papierbecher zu sehen. Auf einigen Aufnahmen ist zu hören, wie Nawalny anschließend an Bord des Flugzeugs unter Schmerzen schreit.
"Wir glauben, dass Alexej mit etwas vergiftet wurde, das in seinen Tee gemischt war", hatte seine Sprecherin Kira Jarmisch auf Twitter geschrieben. Diesen habe er in einem Café am Flughafen in Tomsk zu sich genommen. Sie fügte an: "Die Ärzte sagen, dass die heiße Flüssigkeit das Gift schnell absorbiert hat."
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