Entwicklung auf Intensivstationen "Doomsday"-Modellrechnung zur Corona-Entwicklung: Panikmache oder realistische Prognose?

Delta ist die dominierende Corona-Variante in Großbritannien
Die vierte Welle ist da. Die Corona-Zahlen schießen aktuell in die Höhe (Symbolbild)
© peterhowell / Getty Images
Die Corona-Infektionszahlen explodieren und liegen schon weit über denen des Vorjahrs. Was heißt das für die kommenden Wochen? Auf Twitter kursiert eine Modellrechnung, die vom Schlimmsten ausgeht. Der stern hat zwei Experten gefragt, wie realistisch diese "Doomsday-Szenarien" sind.

Die aktuelle Lage lässt sich knapp zusammenfassen: Es sieht nicht gut aus. Egal, auf welche Zahl man schaut, keine lädt dazu ein, entspannt die Maske abzunehmen. Corona-Neuinfektionen: 21.832, Sieben-Tage-Inzidenz: 213,7 (Allzeit-Hoch), Hospitalisierungsrate am Montag: 3,93. Die vierte Welle treibt die Zahlen stetig nach oben. Eine Trendwende ist nicht in Sicht. Im Gegenteil. Wohin soll das noch führen?

Aktuelle Hochrechnungen zeigen Kurven, wie man sie 2021 und mit den Impfungen eigentlich nicht mehr sehen wollte. Vor allem die Modellrechnungen eines Twitter-Nutzers sorgen derzeit für Aufruhr. Seine sogenannten "Doomsday-Szenarien", übersetzt bedeutet das – recht dramatisch – Weltuntergangstag-Szenarien, zeichnen eine Lage, in der, wie er in einem Thread erklärt, "auch ein schnelles und entschiedenes Handeln eine zeitnahe Überlastung des Intensiv-Systems in 1-3 Wochen nicht mehr verhindern kann". Die Rede ist von 10.000 Intensivpatienten an Weihnachten im optimistischsten Fall und von Hunderttausenden Toten bis Ende Januar im schlimmsten Fall. Es fallen Begriffe wie "Monsterwelle" und "Katastrophenfall".

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Panikmache oder realistische Prognose?

Aber wie glaubwürdig sind diese Modellrechnungen? Der stern hat bei Christian Karagiannidis und Andreas Schuppert nachgefragt. Karagiannidis ist wissenschaftlicher Leiter des Divi-Intensivregisters und leitender Oberarzt an der Lungenklinik Köln-Merheim. Schuppert lehrt an der RWTH Aachen Computional Biomedicine. Gemeinsam haben sie ebenfalls die Entwicklung der Covid-19-Intensivbelegung in diesem Herbst und Winter in einem dynamischen Modell mit Inzidenzen zwischen 250 und 400 berechnet. Es handelt sich dabei um ein Preprint und ist noch nicht von unabhängigen Gutachtern bewertet worden.

"Unsere Modellrechnungen sind etwas konservativer, gehen aber in die gleiche Richtung", erklären die beiden in Bezug auf die "Doomsday-Szenarien". Der Anstieg werde laut ihrem Modell allerdings langsamer ausfallen und regional sehr unterschiedlich sein. In ihrer Berechnung steigt die Zahl der Intensivpatienten auf mindestens 3500, im schlimmsten Fall in etwa wieder auf das Rekordniveau aus der zweiten Welle mit nahezu 6000 Patienten. Mit einer Überlastung der Intensivstationen rechnen Karagiannidis und Schuppert allerdings nicht. "Das System hat Reserven und ist dehnbar. Verschiebungen von Eingriffen werden lokal sicher nötig sein, aber grundsätzlich kann und muss das System auch etwas schlucken können in den nächsten Wochen", so Karagiannidis. "Aber regional kann es sehr, sehr eng werden." 

Ab Inzidenz 300 wird es eng

"Ich halte Inzidenzen von 300 bundesweit für schmerzhaft aber leistbar", so der Divi-Experte. Bei einer Inzidenz in dieser Höhe rechnen die beiden mit etwa 4500 Covid-19-Patienten, die intensivmedizinisch betreut werden müssen. Und welche Inzidenz wäre auf den Stationen nicht mehr handhabbar? "Tja, auch das ist regional sehr unterschiedlich", sagt Schuppert. "Wenn wir alle Patienten gut verteilen könnten, könnte man mit gemittelten Werten arbeiten, das hilft aber niemandem, der vor Ort kein Bett hat und den man nicht abverlegen kann." So könne man davon ausgehen, dass bei einer lokalen Inzidenz von 300 eine Belastung auftrete, die ähnlich der sei, wenn 4500 Intensivbetten bundesweit belegt seien. 

In einigen Bundesländern, in denen die Inzidenz bereits bei über 400 liege, sei es "lokal jetzt schon sehr eng". Da wäre beispielsweise der Landkreis Miesbach mit einer Sieben-Tage-Inzidenz von derzeit 868,4, Dingolfing-Landau mit 778,5 oder der Landkreis Bautzen mit 645,3 – drei von etlichen Landkreisen, in denen die Infektionszahlen explodieren.

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Der Herbst 2020 ist nicht mit dem Herbst 2021 vergleichbar. Vieles hat sich seither getan. Zu dieser Zeit im Vorjahr waren die Corona-Impfungen noch nicht zugelassen, nun erhalten die ersten bereits eine Auffrischung ihres Impfschutzes. Statt einem Lockdown light wie im vergangenen Jahr, versuchen wir nun 2G und 3G. Was geblieben ist: Wie im vergangenen Jahr sind die Zahlen im Herbst immens in die Höhe geschnellt. Mehr noch. Mittlerweile liegen sie über den Vorjahreswerten, woran die hochansteckende Delta-Variante einen großen Anteil hat. 

"Wir appellieren an die Vernunft"

In einem Twitter-Post fordert Karagiannidis hinsichtlich der Modellrechnungen eine Bremse, um die Kurve abzuflachen – und das jetzt. "Wir fahren im Nebel ohne GPS, und das obwohl wir der Herdenimmunität durch Impfung eigentlich gar nicht so fern wären. Bitter", schrieb er. Im Moment helfe nur eine freiwillige Verhaltensänderung der Bevölkerung. In Deutschland dümpelt die Impfquote bei einem Wert von 67,1 Prozent vollständig Geimpfter herum. Zum Vergleich: In Portugal sind es 87,4 Prozent, in Spanien 80 Prozent.

Das heißt: Millionen Menschen sind in Deutschland weiterhin ohne Impfschutz. Und: "Die Zahl der Sars-CoV-2-Infektionen ist unter Ungeimpften zehnfach höher als unter Geimpften. Ebenso befinden sich unter den intensivmedizinisch behandelten COVID-19-PatientInnen sehr viele ungeimpfte Personen sowie Menschen mit Immundefizienz", äußerte sich kürzlich die Ständige Impfkommission (Stiko).

In ihren Berechnungen kommen Karagiannidis und Schuppert nach aktuellem Stand auf noch immer 15,8 Millionen Menschen in Deutschland, die sich potenziell mit dem Virus infizieren können, davon etwa 270.000, die potenziell intensivpflichtig werden können. Diese setzen sich demnach aus 232.000 Nicht-Geimpften und 38.000 Geimpften oder Genesenen zusammen.

Prof. Dr. Uwe Janssens sitzt in seinem Büro.
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Auf Anfrage des stern nennen die Experten außerdem das Tragen einer Maske in Innenräumen sowie freiwillige Kontaktbeschränkungen als Akut-Maßnahmen, um jetzt Übertragungen zu verlangsamen und die Intensivstationen zu entlasten. "Wir appellieren wirklich an die Vernunft der Menschen." Dazu formulieren sie Maßnahmen, die ihrer Meinung nach mittelfristig über den Winter wichtig werden: "2G und Boostern sind essenziell. Und zwar so schnell wie möglich. Hierzu müssen wir zwingend die Apotheken zum Impfen einbinden. Wichtig ist auch die Alten- und Pflegeheime zu schützen mit möglichst viel 2G oder 3G mit intensivem Testen." Und natürlich das Impfen. Die passive Immunisierung mit neutralisierenden Antikörpern sei enorm wirksam. "Hier müssen wir versuchen möglichst viele Patienten mit Risikofaktoren frühzeitig zu erwischen und von Intensivstation fernzuhalten."

Virologe Christian Drosten hatte sich bereits in der vergangenen Woche für eine Schließung der Impflücke ausgesprochen. Also dafür, dass all diejenigen, die sich impfen lassen könnten auch impfen lassen. "Erst nach Schluss der Impflücken kann man in die endemische Phase gehen", schrieb er auf Twitter. Mit seiner Ansicht steht Drosten nicht allein. So herrscht bei Experten und Expertinnen Einigkeit darüber, dass die Impfquote weiter steigen muss. Schließlich diene diese nicht nur dem Selbstschutz, sondern auch dem Schutz der Mitmenschen.

Auch weitere Maßnahmen zur Eindämmung der vierten Welle werden derzeit diskutiert, darunter die Wiedereinführung der kostenlosen Bürgertests. 

Quellen: Preprint, RKI

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