Früher hat Wolfgang Grote* niemals darüber nachgedacht. Es ging einfach. Immer wenn er wollte. Jahrzehntelang. Impotenz, Erektionsstörungen, schwindende Manneskraft, das waren Probleme anderer Menschen. Für ihn spielten sie keine Rolle. Bis sein Hausarzt ihm zu Beginn der 80er Jahre einen Betablocker gegen Bluthochdruck verschrieb - und sich Grotes Leben grundlegend veränderte.
Es dauerte länger als ein halbes Jahr, bis er merkte, dass etwas mit ihm nicht mehr stimmte. Als die Erektionen schwächer wurden und schließlich immer häufiger ganz ausblieben. "Es ging nicht von einem Tag auf den anderen, sondern bröselte einfach weg", sagt Grote. "Ganz langsam, peu à peu." Auf der Suche nach einer Erklärung beruhigte sich der damalige Mittvierziger zunächst mit Ausreden: ein schlechter Tag, zu müde, zu viel Stress bei der Arbeit. Dann machte er sich Gedanken über seine Partnerschaft: Stimmte es noch zwischen ihm und seiner Frau nach fast 25 Jahren Ehe? Konnten sie sich noch füreinander begeistern und sich gegenseitig erregen?
Ihn quälte die Frage nach dem Warum
Jahrelang quälte Grote seine Liebesschwäche und ebenso die Frage nach dem Warum. Seine Frau reagierte verständnisvoll, doch über die Selbstzweifel und Unzufriedenheit half das nicht hinweg. "Das ist so, als würde man einem Gockel auf dem Misthaufen alle Federn herausreißen", sagt Grote. "Ich hatte das Gefühl, jeder auf der Straße sieht, dass ich nicht mehr kann. Auf Dauer macht das psychisch kaputt." Trotz dieser Belastung wagte er es lange nicht, sich seinem Arzt zu offenbaren. "Damals hieß es noch, 90 Prozent der Betroffenen gehören in die Psychotherapie, auf die Couch." Und da wollte er nicht hin.
So erfuhr er den wahren Grund für seine erektile Dysfunktion, wie das Phänomen Impotenz in der Fachsprache heißt, erst 1991, als er zu einem jungen Hausarzt wechselte und mit ihm über seine Schwierigkeiten sprach. "Der hat mir sofort erklärt, dass die Nebenwirkungen des Betablockers dafür verantwortlich seien", sagt Grote. Damit bestätigte der Mediziner Befürchtungen seines Patienten, die sein früherer Hausarzt noch als unbegründet abgetan hatte. Grote: "Als ich zu Beginn der Therapie nachgefragt habe, ob solche Blutdrucksenker impotent machen könnten, hat der sich kaputtgelacht."
Vielen Patienten, denen es ähnlich ergangen ist wie Grote, ist dagegen der Spaß vergangen - zumindest im Bett. Wie viele Männer in Deutschland unter Erektionsstörungen durch Arzneimittelnebenwirkungen leiden, ist unbekannt. Genaue Statistiken über das Tabuthema Impotenz gibt es nicht. Auf Basis einer Studie der Universität Köln aus dem Jahr 1998 rechnen Wissenschaftler mit rund 4,5 Millionen Betroffenen, die allgemein unter Erektionsstörungen leiden. Das sind immerhin fast 20 Prozent aller Männer zwischen 30 und 80. Bei rund einer Million davon dürften diese auf Nebenwirkungen von Medikamenten zurückgehen, schätzen die Mitarbeiter der "Selbsthilfegruppe Erektile Dysfunktion", in der sich Grote seit 2001 engagiert.
Ganz unterschiedliche Medikamente führen zu Errektionsstörungen
Aber in welchen Mitteln stecken die Stoffe, die das empfindliche Lustsystem des Mannes lahm legen? "Nicht nur in Betablockern, sondern in ganz unterschiedlichen Medikamenten", sagt Bruno Müller-Oerlinghausen, Vorsitzender der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft. Zusammen mit der Medizinerin Isabel Ringel hat er untersucht, welche Arzneien möglicherweise Impotenz und andere Sexualstörungen hervorrufen können. Dazu analysierte das Team Daten aus dem deutschen Spontanerfassungssystem, in dem unerwünschte Nebenwirkungen von Medikamenten registriert werden. Das Ergebnis: Rund 90 Wirkstoffe wurden darin, zumindest in einzelnen Fällen, mit Erektionsstörungen in Verbindung gebracht.
* Name geändert
"Vor allem Bluthochdruckmittel sind bekannt dafür, Erektionsstörungen hervorzurufen", sagt Müller-Oerlinghausen. "Daneben können aber auch Psychopharmaka, Cholesterinsenker, Entwässerungspräparate und Medikamente gegen Magenschmerzen und Herzrhythmusstörungen Impotenz auslösen." Selbst scheinbar harmlose Mittel wirken mitunter ungewollt drastisch: So kann die die Substanz Finasterid zwar die Haarpracht schwellen, in extremen Fällen aber auch das Geschlecht erschlaffen lassen.
Das Zusammenspiel zwischen Psyche, Biochemie und Physik ist komplex
Dabei wirken die erektionsfeindlichen Stoffe im Körper auf ganz unterschiedliche Weise. Wie und wo genau, haben die Wissenschaftler in vielen Fällen noch gar nicht entschlüsselt - zu komplex ist das Zusammenspiel von Psyche, Biochemie und Physik, das zur Versteifung führt. Bei Antihypertonika wie zum Beispiel den Betablockern vermuten Mediziner, dass die Durchblutung des Schwellkörpers durch die Senkung des Blutdrucks nicht mehr ausreicht, um den Penis vollständig aufzurichten. Antidepressiva dagegen stören das Gleichgewicht von Neurotransmittern wie Dopamin, die unter anderem bei der Stimulation der Erektion eine entscheidende Rolle spielen.
So unterschiedlich, wie sie wirken, so verschieden schnell zeigen die Stoffe ihre unerwünschten Folgen. "Bei Antidepressiva und Hormonen kann das ruck, zuck gehen, bei Bluthochdruckmedikamenten verläuft die Entwicklung dagegen schleichend", sagt Volker Severin Lenk, Leiter der Urologischen Poliklinik an der Berliner Charité. Seiner Ansicht nach sind Arzneien jedoch nicht unbedingt der ursprüngliche Auslöser der Impotenz: "Mitunter wird eine bereits vorhandene Erektionsschwäche, die die Patienten bis dahin nicht bemerkt haben, durch die Nebenwirkungen verstärkt."
Doch gerade wenn die Sexualstörungen wie bei Grote erst nach einem halben Jahr auftreten, bringen die Männer sie oft nicht mit Medikamenten in Verbindung - stattdessen zweifeln sie an sich oder ihrer Partnerschaft. Mediziner können das verhindern, indem sie die Patienten vorher schon über mögliche Nebenwirkungen aufklären oder im Verlauf der Therapie nach Veränderungen der Potenz fragen. "Viele Ärzte wissen allerdings gar nichts über diese Nebenwirkungen oder ignorieren sie", sagt Lenk. "Oft gibt ein Allgemeinmediziner einfach ein bewährtes Antihypertonikum und kümmert sich nicht um die Folgen für das Sexualleben seines Patienten - Hauptsache, der Blutdruck sinkt." Aber selbst wenn Ärzten das Problem bekannt ist, schneiden sie es oft aus Scham nicht an. Lenk: "Das Thema ist für viele Kollegen tabu."
Mit dem Arzt darüber sprechen
Grote rät anderen Betroffenen deshalb, von sich aus mit den Ärzten darüber zu sprechen und die Beipackzettel der Medikamente genau zu studieren. Doch die seien oft sehr unverständlich. "Da ist mal versteckt die Rede von Impotenz, erektiler Dysfunktion oder verminderter Testosteron-Bildung." Wer durch Medikamentennebenwirkungen impotent geworden ist, muss es nicht bleiben. "Helfen können wir jedem", sagt Lenk, der in der Charité eine Impotenz-Sprechstunde anbietet. "Manchmal reicht es schon, das Medikament abzusetzen oder zu wechseln." Langzeitschäden seien durch die Einnahme nicht zu befürchten. "Wie schnell sich die Erektionsfähigkeit regeneriert, hängt von der Halbwertszeit des Mittels ab."
Allerdings warnt der Experte davor, Medikamente ohne Absprache mit einem Mediziner abzusetzen. Und wenn Patienten auf ein bestimmtes Präparat nicht verzichten können, wie es bei Bluthochdruckkranken oft der Fall ist? "Dann behandeln wir die Dysfunktion in drei Stufen", sagt Lenk. Zunächst verschreiben die Ärzte Hormone oder so genannte PDE-5-Hemmer wie Viagra, oder sie schicken die Patienten zur Psychotherapie. Härtere Fälle der Stufe zwei versuchen unmittelbar vor dem Sex, mit so genannten SKAT-Spritzen oder Vakuumpumpen eine Erektion zu erzeugen. "Hilft das alles nichts, können wir eine Penisprothese einsetzen", erklärt der Urologe. Doch darauf lasse sich in Deutschland kaum ein Patient ein, "anders als in den USA, wo Sex offenbar eine viel größere Bedeutung hat".
So weit musste Wolfgang Grote nicht gehen. Vor rund zehn Jahren hat er den Betablocker abgesetzt und ist auf ein anderes Medikament umgestiegen, doch die Erektionsschwäche ist geblieben. Nachdem sich der 69-Jährige jahrelang mit einer Vakuumpumpe beholfen hat, probierte er zunächst Viagra aus - und litt erneut unter unerwünschten Folgen. "Davon habe ich unerträgliche Magenschmerzen bekommen", sagt er. Auch der Wechsel auf das Konkurrenzprodukt Cialis verlief nicht reibungslos: Rückenbeschwerden und Muskelschmerzen im Oberschenkel verleideten ihm zunächst den wiedergewonnenen Spaß am Sex. Doch nach einiger Zeit legten sich die Probleme, und heute fühlt sich Grote wieder fast so fit wie früher. "Wir haben zwar nicht mehr ganz so häufig Sex wie in der Zeit vor der Impotenz", sagt er. "Doch jetzt können wir wieder spontan miteinander schlafen. Ganz einfach, wenn uns danach ist."