Anfangs war es ein Medikamententest, wie sie jede Woche im vielen Kliniken stattfinden: an acht gesunden Männern zwischen 18 und 40 Jahren, die sich am Sonntagabend auf dem Gelände des Northwick-Park-Krankenhauses im Nordwesten von London einzufinden hatten. Nach einer ersten Nacht in einer gesonderten 36-Betten-Klinik der US-Firma Parexel ließen sie sich ein Medikament aus deutscher Entwicklung verabreichen, das zuvor nur an Tieren getestet worden war. 2000 Pfund sollte jeder dafür bekommen, umgerechnet 2893 Euro.
Zwei der Männer hatten Glück: Sie bekamen anstelle des Präparats mit der Bezeichnung TGN 1412 nur ein wirkungsloses Placebo-Mittel. Für die anderen wurde das Experiment, hinter dem das Würzburger Pharma-Unternehmen TeGenero steht, zur Katastrophe. Alle sechs liegen auf der Intensivstation, zwei von ihnen schweben auch nach vier Tagen immer noch in Lebensgefahr. Diagnose: multiples Organversagen. Wenn Ärzte so etwas sagen, besteht häufig kaum noch Hoffnung.
Deformiert wie in einem Horrorfilm
Außerhalb der Klinik hat bislang keiner die Männer zu Gesicht bekommen, die Angehörigen berichten aber von Gestalten, wie man sie sonst nur aus Horrorfilmen kennt. Die Gesichtsfarbe zwischen lila und gelb, der Nacken völlig aufgedunsen, die Köpfe bis auf die dreifache Größe geschwollen. "Mein Freund sieht aus wie der Elefantenmensch", berichtete die BBC-Angestellte Myfanwy Marshall schockiert. Die Ärzte haben sie gewarnt, dass der 28-Jährige jederzeit sterben kann.
Die Engländerin Jo Brown erkannte ihren 21-jährigen Schwager Ryan Wilson auf der Intensivstation zunächst gar nicht wieder. "Er sah überhaupt nicht aus wie der Ryan, den wir kennen und lieben." Die deformierte Nase sei wie nach einem Unfall übers gesamte Gesicht verteilt. Der Klempnerlehrling gehört zu den beiden Männern, die ums Überleben ringen. Den anderen vieren geht es inzwischen besser. Die Ärzte beschreiben ihren Zustand aber immer noch als "ernst".
Niemand weiß, was vorgefallen ist
Die Behandlung wird dadurch erschwert, dass die Mediziner zwar die Symptome kennen, aber noch keiner so richtig weiß, was vorgefallen ist. Wurden bei der Herstellung des Teststoffs Fehler gemacht? War bei der Verabreichung des Medikaments möglicherweise etwas verunreinigt? Oder haben sich die Tester bei der Dosierung des Mittels geirrt, das eigentlich einmal gegen Multiple Sklerose, Brustkrebs und rheumatische Arthritis helfen sollte?
Fest steht, dass die katastrophalen Nebenwirkungen innerhalb von wenigen Stunden offensichtlich wurden. Der 23-jährige Raste Khan - einer der beiden Placebo-Patienten - berichtete, dass die anderen "wie Dominosteine umgekippt" seien. "Zuerst haben sie ihre Hemden ausgezogen, weil sie über Fieber klagten. Dann haben einige geschrien, dass ihre Köpfe gleich explodieren würden." Der Fernsehtechniker stand ebenfalls Höllenqualen aus - Khan wusste lange nicht, dass er nur ein Placebo bekommen hatte. Nach Informationen der Tageszeitung "The Times" bekamen die Teilnehmer des Tests das Mittel gleichzeitig verabreicht, was gegen die Vorschriften sei.
Anwälte sind schon eingeschaltet
Das Würzburger Unternehmen TeGenero hat sich nach dem missglückten Medikamententest bei den Angehörigen der sechs schwer erkrankten Probanden entschuldigt. Forschungschef Thomas Hanke sei "schockiert" über den Verlauf des Medikamententests, im Laborversuch seien keine entsprechenden Probleme aufgetreten. "Das Wichtigste ist nun, dass die Patienten und Familien alle erdenkliche Hilfe erhalten", teilte Hanke in einer Presseerklärung der Pharmafirma mit.
Mit dem Fall beschäftigt sich jetzt auch Scotland Yard. Die Polizei will gemeinsam mit der Medikamenten-Aufsichtsbehörde MRHA in Erfahrung bringen, was schief gegangen ist. Die ersten Angehörigen haben bereits eine Anwältin eingeschaltet, um eine Klage vorzubereiten. Trotz der 16-seitigen Freiwilligkeits-Erklärung, die alle Versuchspersonen unterschreiben mussten, rollen auf die beteiligten Konzerne Millionen-Forderungen zu.
"Unglückliches und außergewöhnliches Ereignis"
Die US-Firma Parexel International, die die Studie im Auftrag von TeGenero vorgenommen hatte, sprach von einem "unglücklichen und ungewöhnlichen" Ereignis. Das Medikament war erstmals bei Menschen getestet worden - nun wurden die Tests sofort gestoppt. Die Behörde für Medizin und Gesundheitsprodukte gab eine internationale Warnung heraus. Nach BBC-Informationen sollte das Medikament auch in Deutschland getestet werden, aber die Tests hätten noch nicht begonnen.
Bei TeGenero handelt es sich um eine Ausgründung des Instituts für Virologie und Immunbiologie der Universität Würzburg. Die Firma ist seit Juni 2002 eigenständig. Das Unternehmen hatte per Februar 15 Mitarbeiter und hat Finanzmittel von 14 Millionen Euro von Venture-Kapital-Firmen zur Finanzierung seiner Entwicklungen eingesammelt. TeGenero forscht an Medikamenten zur Aktivierung des Immunsystems, mit denen nach Angaben des Unternehmens Krankheiten wie Leukämie oder Autoimmunerkrankungen wie rheumatoide Arthritis besser behandelt werden könnten. TGN 1412 ist nach Angaben von TeGenero der erste Entwicklungskandidat der Firma.