Die Zettel sind handgeschrieben. Sie hängen zwischen einem Hinweis der Stadtreinigung Berlin und der Benachrichtigung eines Paketboten. "Liebe Nachbarn", steht auf dem ersten. "Falls sich jemand in den nächsten Wochen in Quarantäne befinden sollte oder einer der Risikogruppen angehört, so darf er/sie sich gerne bei mir melden für kleine oder größere Hilfen/Beratung/Einkäufe etc." Auf dem anderen: "Auch wir helfen sehr gern!" Unterschrieben sind sie von einem Arzt der Charité und einer Apothekerin. Sie sind Nachbarn in einem Haus, das in Berlin-Friedrichshain steht. Rund 70 Menschen wohnen hier.
"Jeder kann mal in eine Notlage geraten, ich finde es wichtig, Hilfsangebote zu machen. Das ist nichts Außergewöhnliches", sagt Anke Rüdinger, 54, die Apothekerin. Als sie den Zettel ihres Nachbarn Jonas Leppig, 31, im Hausflur entdeckte, beschlossen sie und ihr Mann, es ihm gleichzutun und Hilfe anzubieten: für Menschen, die sich in Coronavirus-Quarantäne befinden. Oder Teil einer Risikogruppe sind.
Der Radiologe stellt sich auf mehrere Monate Ausnahmezustand ein
Leppig arbeitet seit zweieinhalb Jahren als Radiologe an der Berliner Charité. Er ließ sich von der Nachbarin seiner Freundin zu der Idee inspirieren. Für ihn sei es "logisch", Risikogruppen wie älteren Menschen unter die Arme zu greifen. "Einkaufen muss ich so oder so - für gesunde und fitte Menschen wie mich ist das nur ein sehr kleiner Aufwand."
Er will sich die Zeit gerne nehmen, auch wenn sein Beruf einiges von ihm abverlange – gerade in Zeiten wie diesen. Angesichts der Coronavirus-Pandemie stellt er sich auf mehrere Monate Ausnahmezustand und eine Urlaubssperre ein. Er findet das "in Ordnung", wie er sagt. "Ähnlich verhält es sich ja auch beim Pflegepersonal, bei der Polizei oder Feuerwehr."
Es sind zurzeit die kleinen Geschichten, die zeigen: Mit dem Virus breiten sich nicht nur Ängste aus, sondern hier und da auch Empathie, ein Zusammengehörigkeitsgefühl. "In den letzten Tagen hat man oft gehört, dass man soziale Kontakte weitgehend einstellen sollte. Aber das gilt ja nur für körperlichen Kontakt", sagt Anke Rüdinger.

Das Motto „Gemeinsam gegen Corona“ markiert Berichterstattung und Initiativen über besonders solidarische und bemerkenswerte Projekte im Kampf gegen Corona. Initiator der Aktion ist die Bertelsmann Content Alliance, zu der auch der Verlag Gruner+Jahr gehört, in dem der stern erscheint.
"Ich glaube, gerade in diesen Zeiten ist es wichtig, dass wir mehr füreinander da sind, mehr miteinander reden und auch Hilfsangebote machen. Jeder steht für den anderen ein – das wünsche ich mir im Kleinen, aber auch für die gesamte Gesellschaft. Gerade Menschen, die allein wohnen, brauchen doch jemanden zum Reden, wenn sie nicht mehr vor die Tür gehen können. Mir geht es auch ums Menschliche."
Pragmatismus, wohin man blickt
Wie gehen die Mitarbeiter ihrer Apotheke mit der Situation um? Es gebe Handdesinfektionsmittel für alle Angestellten, Kunden würden informiert, sagt Rüdinger. Niemand solle bei Verdacht auf eine Infektion in die Apotheke kommen. Stattdessen sollen sie anrufen. "Wir liefern die Medikamente dann nach Hause."
Natürlich gebe es auch ähnliche Probleme wie in anderen Betrieben. Weil die Kitas und Schulen in Berlin geschlossen sind, fehlt es an Möglichkeiten für die Kinderbetreuung. "Fast die Hälfte meiner Mitarbeiter sind Mütter", sagt Rüdinger. Ihr Mann habe daraufhin angeboten, die Betreuung übernehmen zu können.

Trotz aller Schwierigkeiten sieht sie in der aktuellen Krise auch eine Chance: "Eine Großstadt wie Berlin lebt zum Teil auch von der Anonymität – mir persönlich ist in den letzten Jahren dabei aber ein Stück menschlicher Zusammenhalt verloren gegangen. Es wäre schön, wenn wir daraus auch etwas lernen könnten: dass es da draußen auch andere Menschen gibt, jenseits der Familie, die womöglich unsere Hilfe brauchen. Und dass wir uns selbst erden und wieder lernen, was wirklich wichtig ist im Leben."
"Die Aktienkurse fallen? Völlig egal!"
"Es wäre schön, wenn durch diese Aktion ein Netzwerk entsteht, durch das wir uns gegenseitig stärken und unterstützen können", sagt auch Jonas Leppig. "Und dass wir uns wieder mehr auf die wesentlichen Werte des Lebens besinnen. Die Aktienkurse fallen? Das ist doch jetzt völlig egal."
Wenn Sie weitere Beispiele von Solidarität in Zeiten der Coronavirus-Krise kennen, senden Sie uns gerne eine E-Mail mit einer kurzen Beschreibung des Projekts samt Ort und Ansprechpartner an coronahilfe@stern.de.