Esila und Efe sind zweieinhalb Jahre alt – und schon berühmt. Sie sind ein Zwillingspaar, aber Esila, das Mädchen, feiert ihren Geburtstag am 14. März, und Efe, der Junge, am 1. Juni. Damals, in jenem Frühjahr 2014, ging die Nachricht von dem medizinischen Wunder um die Welt: Zwillinge, die im Abstand von elf Wochen geboren waren. Doch erst heute lässt sich beurteilen: Wie geht es den Kindern? Wie haben sie sich entwickelt?
Die Familie Bisirici wohnt im badenwürttembergischen Geislingen bei Ulm. Die Zwillinge spielen im Wohnzimmer: Das Mädchen mit einem bunten Gummiball, der Junge mit seinen Autos. Esila, die Ältere, ist kleiner und zarter als ihr Bruder und trägt einen Jeansrock, Leggings und Spangen im Haar. Zusammen tanzen die Geschwister nach türkischer Musik durchs Wohnzimmer, krabbeln unter den Tisch und auf das weiße Sofa. Ab und an verliert Esila dabei das Gleichgewicht, ihre Bewegungen wirken noch ungelenk. "Efe ist in der Entwicklung ein bisschen weiter", sagt Tugba Bisirici, die Mutter.

Efe trinkt schon aus dem Glas, Esila noch aus der Flasche. Efe geht zielsicher zum Mülleimer und wirft eine Bananenschale hinein. Esila schaut ihre Eltern zwar interessiert an, als die sie bitten, die Puppe herzubringen – lässt das Spielzeug dann aber liegen. "Efe kann sich besser ausdrücken, wenn er einen Wunsch hat", sagt Vater Murat. "Esila sagt bisher nur Mama und Papa." Jede Woche geht die Mutter mit ihr zu Frühförderung, Ergotherapie und Logopädie. "Die Ärzte haben uns gesagt, dass beide Kinder keine bleibenden Schäden haben", erzählt sie.
Das ist keinesfalls selbstverständlich. Schließlich wurde Esila in der 23. Schwangerschaftswoche geboren – eine normale Schwangerschaft dauert 40 Wochen. Sie wog bei der Geburt 565 Gramm, wenig mehr als zwei Pakete Butter. Ein reifes Neugeborenes ist durchschnittlich 3300 Gramm schwer. Ihr Bruder Efe kam in der 33. Schwangerschaftswoche auf die Welt. Auch er war also eine Frühgeburt, hatte aber elf Wochen mehr Zeit, in der Gebärmutter heranzureifen.
Im März 2014 wurde Tugba Bisirici mit starken Wehen in die Ulmer Uniklinik eingeliefert. Esila hatte sich vorzeitig auf den Weg gemacht: Die schützende Fruchtblase war schon Tage zuvor undicht geworden, Fruchtwasser ging verloren, der Muttermund hatte sich geöffnet. In solch einer Situation müssen die Ärzte das Kind auf die Welt bringen, die Geburt lässt sich nicht mehr verhindern.
"Das Risiko war groß, dass die Mutter beide Kinder verlieren würde", sagt Frank Reister, Leiter der Sektion Geburtshilfe des Universitätsklinikums Ulm. Der Oberarzt betreute die Familie Bisirici in Zusammenarbeit mit der Abteilung für Neonatologie – das Expertenteam um Professor Helmut Hummler ist auf die Versorgung von komplizierten Frühgeburten eingerichtet. Damals erklärte Reister den werdenden Eltern zunächst, was eine Frühgeburt bedeuten kann: Dass die Kinder schwer behindert sein oder sterben könnten, weil ihre Organe noch nicht hinreichend ausgebildet sind und ein hohes Risiko für Komplikationen besteht. Zwar überleben mithilfe von Hightech-Brutkästen oder modernen Beatmungsverfahren heutzutage immer unreifere Frühgeborene. Aber auch die moderne Geburtsmedizin hat Grenzen – mit relativ klaren zeitlichen Trennlinien: Ein Kind, das vor der 22. Schwangerschaftswoche zur Welt kommt, ist zumeist nicht überlebensfähig. Die Lunge ist noch extrem unterentwickelt, das Risiko für Durchblutungsstörungen im Gehirn und für bleibende Schäden ist groß. Ab der 24. Schwangerschaftswoche wiederum versorgt das Ulmer Team jedes Frühchen routinemäßig. "In unserer Klinik überleben von diesen Kindern mehr als 90 Prozent", sagt Reister, "und deutlich mehr als jedes zweite ohne relevante Behinderungen."
Der Geburtsprozess wird gestoppt, der Muttermund zugenäht
Tugba Bisirici war in der 23. Schwangerschaftswoche – genau inmitten der Zeitgrenzen. "Wenn sich die Geburt zwischen der 22. und 24. Schwangerschaftswoche ankündigt, entscheiden die Eltern gemeinsam mit uns, ob sie kämpfen oder loslassen wollen", sagt Oberarzt Reister. Die Bisiricis beschlossen, dass alle lebenserhaltenden Maßnahmen für ihre Kinder eingesetzt werden sollten.
Daraufhin schlug Reister dem Ehepaar ein Verfahren bei Mehrlingsschwangerschaften vor, das weltweit erst wenige Hundert Male beschrieben wurde: die zweizeitige Geburt. Nachdem eines der Babys geboren worden ist, stoppen die Ärzte die Wehen medikamentös, nähen den Muttermund wieder zu und beruhigen so den Geburtsprozess. Danach muss man abwarten. "In einer so frühen Schwangerschaftsphase zählt jeder Tag", sagt Reister. "Mit der zweizeitigen Geburt versuchen wir, dem anderen Kind mehr Zeit zu geben."
Für die Bisiricis war der Vorschlag des Oberarztes zuerst ein Schock. "Wir hatten Angst, ob alles gut gehen würde", sagt Tugba Bisirici. "Aber dann habe ich auf mein Herz gehört und wusste, ich will meine Kinder, egal, wann und wie sie geboren werden. Wir müssen es versuchen", erzählt die 28-Jährige.
Kurz darauf brachte sie Esila auf natürlichem Weg zur Welt. "Bei der Geburt sah unsere Tochter aus wie ein winziges, aber völlig normales Baby", erinnert sich der 32-jährige Vater. "Ich hätte nie gedacht, dass ein Mensch von nur 565 Gramm so laut schreien kann." Zwei Wochen später durfte seine Frau nach Hause, immer noch schwanger mit dem zweiten Baby; Esila lag im Brutkasten, wurde beatmet und über eine Magensonde ernährt. Wegen einer Infektion und eines Leistenbruchs musste sie mehrmals operiert werden. "Es war eine schlimme Zeit", sagt die Mutter. Jeden Tag fuhr sie mit dem Auto 30 Kilometer durch die noch winterliche Landschaft zu ihrer Tochter nach Ulm. Sie machte sich Sorgen um Esila im Brutkasten. Sie machte sich Sorgen um Efe im Mutterleib. "Ich war nur unterwegs und hatte keine Zeit, mir Gedanken zu machen, wie es mir selbst geht. Es war unglaublich hart", erzählt sie.
Dann, in der 33. Schwangerschaftswoche, inzwischen waren die Bäume grün, setzten erneut Wehen ein. Auch Efe brachte sie auf natürlichem Weg zur Welt. Mit 2540 Gramm war er deutlich reifer und kräftiger als seine Schwester. "Er durfte zwei Wochen später nach Hause und hat uns getröstet, wenn wir Angst um unsere Tochter hatten", sagt die Mutter. "Ich musste alle Kraft zusammennehmen und bin täglich mit ihm in die Klinik zu Esila gefahren."
Bisher hat noch kein Forscher genaue Zahlen gesammelt, wie oft die zweizeitige Geburt weltweit durchgeführt wurde oder wie viele Kinder überlebten. Geburtshelfer entschließen sich nur in ausgewählten Fällen dafür, denn es müssen einige Voraussetzungen erfüllt sein: Das erste Kind muss in Schädellage liegen, das Köpfchen also bereits im mütterlichen Becken sein. Es darf keine Infektion geben. Jedes Kind muss einen eigenen Mutterkuchen und eine eigene Fruchtblase haben. "Noch vor fünf oder sechs Jahren wären beide Kinder der Familie Bisirici gleichzeitig geboren worden, mit all den Risiken, die so extrem Frühgeborene haben", sagt Reister, der schon zehn zweizeitige Zwillingsgeburten betreut hat. Heute sei klar, dass es in bestimmten Situationen besser sei, zu beobachten und abzuwarten, als reflexartig alle Kinder in einem Rutsch zu holen. "Die wichtigsten Instrumente eines guten Geburtshelfers sind innere Ruhe, genaues Beobachten und gezieltes Handeln", sagt er. "Manchmal hilft da eine Tasse Kaffee."
"Meine Gebete gaben mir Kraft"
Die Bisiricis sind glücklich, dass ihr Doktor damals so mutig war. Auch wenn sie es sich heute kaum erklären können, wie sie den Start als Familie überhaupt gemeistert haben. Da ihr Mann viel auf dem Bau arbeitete, unterstützte vor allem die große Familie die junge Mutter. Auch der Glauben half Tugba Bisirici. Nicht zufällig, so glaubt sie, sei ihre Tochter an einem Freitag geboren, dem heiligen Tag im Islam. "Ihren Namen habe ich ausgewählt", sagt Tugba. Und so hat sie mit Esila einen Namen ausgesucht, der von diesem Glauben erzählt. Die Mutter sagt: "Meine Gebete gaben mir Kraft, aber ich habe nie daran gezweifelt, dass wir alles richtig gemacht haben."
Tatsächlich rettet das Verfahren Leben. Vor drei Jahren bewahrte Michael Untch, Leiter der Klinik für Gynäkologie und Geburtshilfe im Helios Klinikum Berlin-Buch, bei einer Drillingsschwangerschaft mit dieser Methode zwei Kinder vor dem Tod. "Das erste Kind wurde in der 25. Schwangerschaftswoche geboren und starb kurze Zeit später an einer Hirnblutung", sagt der Professor. "Unmittelbar nach der Geburt des ersten Babys beschlossen wir zusammen mit dem Ehepaar, den Geburtsprozess zu stoppen, zum Schutz der beiden anderen Kinder." Der Verlauf gab ihm recht: Nach fast sieben Wochen Geduld, absoluter Bettruhe und medikamentöser Therapie brachte die Mutter in der 32. Schwangerschaftswoche zwei Babys mit je etwa 1600 Gramm zur Welt. Nach sechs Wochen auf der Intensivstation konnten die Kinder völlig gesund entlassen werden. "Heute geht es ihnen gut", sagt Untch. "Sie entwickeln sich prächtig." Ihm sind weltweit nur vier vergleichbare Fälle bei Drillingen bekannt. "Es gibt noch keine Regel, wann und bei welchen Frauen genau wir die zweizeitige Geburt einsetzen können", sagt der Klinikchef. Aber sicher ist: Sie ist eine Ausnahme, und sie wird immer eine Ausnahme bleiben. Dennoch sollten Eltern bei frühen Wehen einer Zwillingsschwangerschaft nie automatisch glauben, dass jetzt beide Kinder geboren werden müssen. Vielleicht wird es ja die nächste zweizeitige Geburt. "Hat man genug Berufserfahrung, ein exzellentes Team und eine hochprofessionelle Neonatologie, kann und sollte man es wagen, diesen Weg zu gehen", sagt Untch. "Das sind Situationen, die man selbst nach 35 Berufsjahren nicht vergisst."
Für Esila und Efe beginnt demnächst ein neuer Lebensabschnitt. Ihre Mutter hat sie für den Kindergarten angemeldet, im März nächsten Jahres soll es losgehen. "Natürlich rief mich die Stadtverwaltung direkt nach unserer Bewerbung an und fragte, ob wir uns bei den Geburtsdaten der Zwillinge nicht geirrt hätten", erzählt sie. "Da habe ich gelacht." Die Verwunderung wird die Familie künftig noch öfter erleben.