Heute hat alles mit allem zu tun. Klima mit Migration, Gendern mit Meinungsfreiheit. Überall lauern maximale Gefahren: Geschlechtsneutrale Toiletten bedrohen die Freiheit, und Impfungen sind Faschismus. Das Individuelle ist für immer passé, weil sich alle in Grüppchen zusammenrotten und das Ende des alten weißen Mannes fordern. Nichts darf man mehr sagen – und tut man es doch, wird man gecancelt. Oder?
Die Journalistin und Autorin Alice Hasters hat sich nun durch diese Debatten geschrieben; sie unternimmt einen geduldigen Ritt durch die Hysterie um die Identitätspolitik. "Ich glaube, dass die vielen großen Krisen unserer Zeit auch unsere individuelle und unsere gesellschaftliche Identität in Unsicherheit versetzen", schreibt sie. Anders gesagt: Wir haben Angst, weil wir nicht mehr wissen, wer wir sind.
Alice Hasters' Debüt traf einen Nerv
In ihrem Debüt "Was weiße Menschen nicht über Rassismus hören wollen, aber wissen sollten" beschrieb sie, wie ihr eigener Alltag als Schwarze Frau in Deutschland von Rassismus geprägt ist. Das traf einen Nerv, monatelang stapelte sich das Buch in Auslagen und Bahnhofskiosken. Während des Aufruhrs um den Tod des Afroamerikaners George Floyd und die Bewegung "Black Lives Matter" wurde Hasters bald zu einer prominenten Schwarzen Stimme.
In "Identitätskrise" gibt Hasters zu, dass sie sich auf der ersten Demonstration selbst erst einmal fehl am Platz gefühlt habe. Sie fragte sich: Was machen all die Menschen ohne Bezug zur afroamerikanischen Identität hier? Warum interessierten sich jetzt alle so für Schwarzes Leben? Ging es hier um die USA oder um Deutschland? Ihr Buch soll niedrigschwellig wirken und reiht sich ein zwischen ähnliche Bücher, die zum Quereinstieg in Debatten über Identität taugen, etwa von Tupoka Ogette ("Und jetzt du", 2002) sowie von Mohamed Amjahid ("Der weiße Fleck", 2021).
"Identitätskrise" rüstet für die nächste Debatte
Hasters erklärt, was mit inflationär gebrauchten Begriffen wie etwa "Narrative" gemeint ist. Was Rechtsruck und Gentrifizierung mit Identitätspolitik zu tun haben. Sie macht das wie eine engagierte Sozialkundelehrerin: besonnen, ohne dogmatisch zu werden oder dem Publikum eine Ideologie unterjubeln zu wollen. Denn die Debatte darüber, was genau Identitätspolitik ist und ob wir sie brauchen, ist noch nicht entschieden: War der Feminismus die erste große identitätspolitische Bewegung – oder ist er nicht eher das Gegenteil? Immerhin wollten sich die Frauen lossagen von einer auferlegten Identität. Sie wollten nicht mehr nur Kinder bekommen und Männer bedienen, sondern selbst entscheiden, wer sie sind. Hasters nimmt den Dampf aus Debatten.
Entscheiden Chromosomen, was ein Geschlecht ausmacht? Und beruht unsere nationale Identität darauf, Bitte und Danke zu sagen? Das ist egal, denn Identität ist nur eine Geschichte, die man über sich selbst erzählt. Sie betont manches, lässt anderes weg. Was wir zum Plot und zur Nebenhandlung machen, ist willkürlich.
Auf kompakten 200 Seiten ist wenig Platz, in die Tiefe zu gehen. Auch originelle Thesen fehlen. Aber "Identitätskrise" ist ein Crashkurs, der bestens rüstet für die nächste Debatte, in der alles mit allem zu tun hat und mal wieder das Abendland untergeht.