"Man spricht Deutsch": Wanderlust Im Frühtau zu Berge

Von Sven Siedenberg
Viele Jahre schon verteidigen die Deutschen - Rezession hin, Arbeitslosigkeit her - ihren Titel als "Reiseweltmeister". Was sich heute Tourismus nennt, firmierte einst unter "Wanderlust", und die hat als Begriff Einzug in die Sprachen der Welt gehalten.

"Man muss sich den Wanderer als einen glücklichen Menschen mit Fernweh vorstellen", sagt meine Freundin Johanna, "auf Naturlehrpfaden unterwegs, in der Westentasche einen Baedeker, den Blick umherschweifend wie die Sehnsuchtsfiguren auf den Bildern von Caspar David Friedrich."

"Ich hab' aber gar kein Fernweh", sagt meine französische Freundin Valerie.
"Ich auch nicht", sagt meine italienische Freundin Laura. "Italien ist molto bella."
"Ich schon", sagt mein englischer Freund Harry. "Es ist ja allgemein bekannt, dass die Briten beim Wetter von den Göttern benachteiligt wurden. Auch deshalb besuchten im 19. Jahrhundert englischsprachige Künstler romantische Orte wie Heidelberg."

Zur Person

Sven Siedenberg lebt und arbeitet als Journalist und Autor in München. Seine Glossen, Kritiken, Reportagen, Porträts und Essays sind unter anderem im Spiegel, stern, Focus sowie in der Zeit, Süddeutschen Zeitung, Frankfurter Rundschau und Berliner Zeitung erschienen. Er hat an zahlreichen Anthologien mitgewirkt und bereits einige Bücher geschrieben, sein neuestes "Besservisser beim Kaffeeklatsching" ist im Heyne Verlag erschienen.

Nicht nur William Turner war dort verzaubert vom Licht, den ständig wechselnden Farbtönen der Gebäude und der Vielfalt malerischer Ansichten. Als dann Anfang des 20. Jahrhunderts, befeuert von Joseph von Eichendorffs schwärmerischen Liedern, das Wandern die Jugendbewegung erfasste, kam das Wort "Wanderlust" ins Englische, als Vorläufer des modernen Tourismus.

Heute, im Zeitalter der Düsenjets, Hochgeschwindigkeitszüge und Rennautos, tragen britische Reisemagazine und amerikanische Camping-Ausrüster die "Wanderlust" im Logo. Und in Walt Disneys Zeichentrickfilm "Aristocats" singt der Straßenkater Thomas O'Malley die Liedzeile "I've got that wanderlust / Gotta walk the scene / Gotta kick up highway dusk / Feel the grass that's green."

Duke Ellington, Mark Knopfler, Paul McCartney und die Rockgruppe R.E.M. haben zudem allesamt Songs mit dem Titel "Wanderlust" komponiert, Gavin Rossdale betitelte 2008 gleich ein ganzes Album "Wanderlust", und die isländische Popsängerin Björk hat jüngst ein mythenverspieltes Video nach ihr benannt.

Hape Kerkeling und Daniel Kehrmann als Glücksjäger auch im Ausland

Reiselust und Fernweh verspüren auch die wetterfühligen, wintermüden Deutschen immer wieder, weshalb ganze Heerscharen von ihnen Jahr für Jahr auswandern, meist in die Schweiz oder Vereinigten Staaten. Und Jahrzehnte schon verteidigen sie, Rezession hin, Arbeitslosigkeit her, ihren Titel als "Reiseweltmeister", gemäß dem Hape-Kerkeling-Motto "Ich bin dann mal weg". Hape Kerkelings Pilgerbuch ist mittlerweile ja auch in Amerika erschienen ("I'm Off Then: My Journey Along the Camino de Santiago"), ebenso wie Daniel Kehlmanns "Vermessung der Welt" ("Measuring The World") – ein weiterer Hinweis darauf, dass man uns im Ausland als tollkühne Glücksjäger betrachtet.

Ansonsten aber drückt sich in der deutschen Lust des Wanderns, dieser langsamsten aller Fortbewegungsarten, stärker denn je die Sehnsucht nach unberührter Natur und Erholung aus, nach Seelenmassage und Abenteuertrip.

"Ich wandere am liebsten im Frühtau zu Berge", sagt Johanna. "Kommt ihr mit?"
"Excuse, ich schlafe lieber aus und knabber ein Croissant", sagt Valerie.
"Scusa, ich schlafe lieber auch aus und schlürfe einen Cappuccino", sagt Laura.
"Okay, ich bin dabei", sagte Harry, "aber nur, wenn wir die Seilbahn nehmen."