Sicherlich sind kaum gegensätzlichere Persönlichkeiten denkbar als der kaschubischstämmige "Blechtrommler" Günter Grass und der preußisch-katholische Hitler-Biograf Joachim Fest. Dennoch haben beide aus der NS-Zeit vor allem die Lehre gezogen, dem allgemeinen Zeitgeist und Meinungsstrom zu misstrauen und gegebenenfalls zu widerstehen. Der Zufall wollte es, dass nun beide zeitgleich nach rund acht Lebensjahrzehnten ihre Erinnerungen an die Kinder- und Jugendtage im Dritten Reich veröffentlichen, "Romane" ihrer Jugend gewissermaßen. Der in Berlin-Karlshorst geborene und aufgewachsene Fest wäre am 8. Dezember 80 geworden, der aus Danzig stammende Literatur-Nobelpreisträger erreicht am 16. Oktober dasselbe Alter. Die beiden Bücher sind gleichzeitig Beispiele für den unterschiedlichen Umgang mit der schmerzhaften Erinnerung an die Nazi-Zeit.
Viele Metaphern bei Grass
Grass schwingt in seinen metaphernreichen Erinnerungen "Beim Häuten der Zwiebel" (Steidl), in denen er erstmals öffentlich bekannt hat, am Ende des Krieges Angehöriger der Waffen-SS gewesen zu sein, oft auch die große Geschichtskeule, während Fest in "Ich nicht" (Rowohlt) die Banalität des Bösen ebenso nüchtern benennt wie beklemmend erinnert. Ein Vergleich beider Bücher hinkt allerdings insoweit, als Grass seine Erinnerungen literarisch verarbeitet, während der Historiker Fest akribisch chronologisch Bericht erstattet, dabei aber auch Emotionen zur Geltung kommen lässt.
Verwirrend bei Grass ist sein oftmaliges Wechseln vom Ich-Erzähler in die dritte Person, die das Geschehen eher distanziert beobachtet. Der Autor spricht selbst von einem "immer wieder im fiktionalen Gestrüpp verschwindenden Ich". Auffallend sind auch seine vielen Fragezeichen hinter vielen Sätzen, wenn er nicht sogar mit den Worten beginnt: "Zu fragen ist: ..." Bei Grass hat dessen spätes Bekenntnis über die Waffen-SS und sein langes Schweigen darüber für den Leser die Folge, dass vieles auch nur noch in Metaphern gelesen wird, so wenn den Autor der "Spagat zerrissen" hat oder der Granatsplitter in der linken Schulter in späteren Jahren bei heftigen Bewegungen spürbare Signale sendet: "Lass das! Ich schlafe. Du weckst mich..."
Fest: "Auch wenn alle mitmachen - ich nicht!"
Fests bewegendes Zeugnis schildert seine jungen Jahre in einer selbstbewussten bildungsbürgerlichen Familie im östlichen Berliner Villenvorort Karlshorst, die von den Nazis nach dem Rausschmiss des Vaters aus dem Schuldienst immer mehr an den Rand gedrängt und schließlich fast aus der Bahn geworfen wird. Der Vater hält am lateinischen Grundsatz "Ego non" (Ich nicht) fest und gibt das auch seinen Kindern weiter: "Auch wenn alle mitmachen - ich nicht!" Daher stammt auch der Titel des am 22. September erscheinenden Buches.
Zwar resümiert der spätere Herausgeber der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung", im Ganzen halte man wohl weniger fest, "wie es eigentlich gewesen ist" und weiß dabei auch von Sigmund Freuds Diktum, dass die ungetrübte biografische Wahrheit nicht zu haben sei. Das Gedächtnis sei "unausgesetzt dabei, das eine auszusondern, anderes an dessen Stelle zu rücken oder durch neue Einsichten zu überlagern", meint Fest. Aber die auch aus zahlreichen späteren Gesprächen mit Familienangehörigen und Weggefährten zusammengetragenen detailreichen Erinnerungssplitter ergeben ein ebenso fesselndes wie erschütterndes Bild einer Familie in jenen Jahren, in denen dem "Volk der Dichter und Denker" der "politische Verstand abhanden gekommen ist", wie Fests Vater verbittert konstatierte.
Das Buch von Fest liefert einen wichtigen Baustein
Wenn der amerikanische Politologe Daniel Goldhagen ("Hitlers willige Vollstrecker") unlängst bedauerte, dass in der historischen Literatur über die NS-Zeit bisher "eine starke literarische Darstellung der moralischen Degeneration Deutschlands unter dem Hakenkreuz" fehle, dann hat Joachim Fest, nach Victor Klemperers Tagebüchern, zumindest einen weiteren dokumentarischen Baustein dafür geliefert.
In den Nachkriegsjahren sah Fest in Deutschland Ernüchterung, Scham und Trotz sich mischen zu einem "schwer durchdringlichen Komplex der Schuldabwehr". Manche hätten sich "im Zerknirschungsspiel auf die Suche nach einem gut sichtbaren Platz auf der Selbstanklagebank" begeben. "Wenn Günter Grass oder einer der ungezählten Selbstbezichtiger auf ihr Schamgefühl deuteten, wollten sie keineswegs auf irgendeine eigene Schuld verweisen, sondern auf die vielen Gründe, die alle anderen hatten, sich zu schämen. (...) Sie selbst fühlten sich bereits durch das Bekenntnis ihrer Scham von jeglichem Vorwurf frei", heißt es in seinem Buch.
In einem späteren Interview ("Cicero") spricht Fest aber auch von der "Generation Flakhelfer", die ins Leben gezwungen worden sei. "Wir sind in das große historische Verbrechen der Nazis in irgendeiner Weise hineingeraten. Der eine mehr, der andere minder. Und wenn man nicht verstrickt wurde, dann hatte man - wie ich - einfach Glück gehabt oder großartige Eltern."
Grass, dessen spätes Waffen-SS-Geständnis eine heftige Debatte über die Erinnerungskultur auslöste, meinte zu seinem jüngsten Buch, die Enkelkinder würden etwas erfahren, "was die Großvatergeneration sprachlos gemacht hat, was sie dazu gebracht hat, bestimmte Dinge solange für sich zu behalten und diese erst jetzt auszusprechen, auch das gehört mit dazu".