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Alice Schwarzers "Lebenslauf" Die Unermüdliche

Vielleicht hatte sie es einfach satt, immer nur zu lesen, wie andere sie sehen. Also hat die unermüdliche Alice Schwarzer ihren Lebenslauf mal selbst aufgeschrieben.
Von Ulrike Posche

Hinterher ist man immer schlauer. Aber vor zehn Jahren etwa, da saßen wir einmal in irgendeiner Redaktionsrunde zusammen. Alice Schwarzer hatte gerade ein neues Buch geschrieben. Die Frage war: Sollen wir ein Interview mit ihr machen, ja oder nein? "Aliiiice Schwarzer?", quiekten die Mitzwanzigerinnen entsetzt, "was hat die uns denn noch zu sagen?"

Jeden Job, den sie erreichen wollten, jeden Chefposten und Karrieresessel würden sie sich doch heute nehmen können, riefen die Alphamädchen. Auch ohne die alte Feministin. Tja.

Die Wahrheit ist: Fast alle aus unserer Runde sind weg vom Fenster. Manche haben geheiratet und den Namen ihres Mannes angenommen. Andere haben beschlossen, mit den Kindern zu Hause zu bleiben. ("Ist doch irgendwie besser für Sophie und Marie. Und Oliver hat ja gerade diesen tollen Job angefangen.") Wenige haben sich in überschaubare Halbtagsjobs retten können und versuchen dort, mit der Uhr im Kopf, Kind und Arbeit zu verschränken. Keine von uns hat Chefkarriere gemacht.

Immer noch oben

Aber sie, die Feministin, sie ist noch da. Und zwar dort, wo sie immer schon war, oben. Sorry, Alphamädels, aber so ist es nun mal. Ob man sie mag oder nicht.

Alice Schwarzer, 68, ist Chefin und Karrierefrau, Merkel-Fan, Verlegerin, Bestsellerautorin, "Bild"-Kolumnistin, Modeexpertin und Krawalltalkerin. Ihre Lebensgeschichte ist die Geschichte eines grandiosen Aufstiegs und eines noch grandioseren Bestehens über Jahrzehnte. Kaum eine Frau in Deutschland ist aus eigener Kraft und ohne die Hilfe von Männern je höher aufgestiegen. Nicht einmal die Bundeskanzlerin. Keine ist übler ("Schwanz-ab-Schwarzer"), verletzender ("Die Hexe mit dem stechenden Blick") und vernichtender kritisiert worden als sie. Alice Schwarzer hat sieben Leben. Und seit Kinderzeiten eine Katze. Die Frau mit dem breitesten Lachen Deutschlands ist zudem die einflussreichste Gleichstellungsbeauftragte, die dieses Land hervorgebracht hat. Das Mandat dazu riss sie vor 35 Jahren kühn an sich. Sie kann bis heute eine sich verbeißende Kampfmaschine sein, wenn es um die Rechte von Frauen geht. Eine schlagfertige Streiterin, eine herbe Nervensäge in wallendem Gewand. Frauen minderer Intelligenz höhnen: Die habe doch weder Mann noch Kind, sei "notgedrungen Lesbe".

Hirn mit Schnauze

Die stets mit solcher Wucht Angegriffene kann heute selbst gehörig abledern, wenn Frauen ihr doof kommen oder sie kritisieren. Genauso derbe, wie Männer das tun. Sie ist schon irgendwie Hirn mit Schnauze. Oder Schnauze mit Hirn. Je nachdem.

Maischberger, Illner, Plasberg. Alice Schwarzer ist oft im TV. Deshalb glauben wir, dass wir sie bereits ewig kennen und alles über sie wissen. Es ist bekannt, dass sie gegen Jörg Kachelmann ist, gegen fundamentalistische Kopftuchträgerinnen und gegen Charlotte Roches Bücher. Dass sie Hennes & Mauritz trägt, aber auch Issey Miyake. Wir wissen, dass ihre gerstenblonden Strähnen renaturiert sind und der goldene Armreif handgeschmiedet. Dass sie Romy Schneider und die Gräfin Dönhoff mochte. Sie gehört zum Inventar dieser Republik. Wie ein besonders sperriges Möbel. Und auch deshalb, weil sie, wie ein Journalist neulich schrieb, zu den geistigen Koryphäen des Landes zählt, wie Helmut und Harald Schmidt, wie Habermas und Precht.

Wir glauben also, über sie Bescheid zu wissen. Tun wir aber nicht. Wir kennen immer nur das offizielle Klischee und seine medialen Offenbarungen.

"Lebenslauf"

Alice Schwarzer bei Kiepenheuer & Witsch, 512 Seiten, 22,99 Euro

Das persönliche Geschichtsbuch

Alice Schwarzer hat deshalb ihren "Lebenslauf" geschrieben. Aufzucht und Pflege, Triumph und Niederlage und die Lehrjahre des Gefühls. Es ist das persönliche Geschichtsbuch der Alice Schwarzer. Und darin stehen mindestens zwei oder drei Dinge, die wir nicht von ihr wussten. Es geht damit los, dass die Leute im Fränkischen, wo sie als Kleinkind lebte, dass die sie "Alois" nannten, weil der Name Alice viel zu exotisch klang. Alice Schwarzer wird 1942 in Wuppertal geboren, mitten im Krieg. Die Mutter ist unverheiratet, unreif, zu jung. Ein Vormund wird bestellt. Alice nennt die Großeltern "Mama" und "Papa". Bei ihnen wächst Alicelein auch auf, während sich die Mutter als Propagandistin durchschlägt und "Goldener Oktober" an den Mann bringt, einen beliebten Weinverschnitt. Alice ist ohnehin eher Großvatertochter, nur die Neigung, stets alles politisch zu nehmen, kommt von der Großmutter. Die sozialdemokratisch gesinnte Familie flieht vor den Bomben nach Stadtlauringen, bis die amerikanischen Panzer anrollen. Sechs Jahre ist das blonde Kind mit dem so akkurat geschnittenen Pagenkopf alt, als es schließlich zurückkehrt ins Bergische Land. Zu der Zeit spricht Alois Schwarzer Englisch und Fränkisch: "Häf ju Schokoläd for mei?" und "Wolln wir fei Fangerles spielen?" Drollige Vorstellung, sie spräche jetzt noch so.

Sie geht ohne Abitur von der Schule ab und beginnt eine Lehre als kaufmännische Angestellte in einem Autohaus, bricht jedoch schnell wieder ab. Sie musste für den Chef Urinproben in die Apotheke bringen und für die Chefin die "Hörzu" kaufen. 50er Jahre eben, typisches Mädchenleben. Aber schwer zu ertragen für eine 16-Jährige, die selbst lieber "Die Zeit" liest und "Twen". Die ins Kino geht oder zum Tanzen in die Düsseldorfer Altstadt. Girl meets Boy. Fräulein Schwarzer lernt einen Jungen kennen.

Trampen und jobben

"Nachdem er mich monatelang bestürmt hat, gebe ich nach", schreibt die Autorin, "es ist knapp vor meiner Periode, ich kann also nicht schwanger werden. Und ich fahre noch in derselben Nacht mit M. in sein möbliertes Zimmer in Köln. Ich blute nicht. Das zum Mythos des Jungfernhäutchens." Die 19- Jährige kommentiert anderntags ihr erstes Mal: "Deswegen macht man so ein Theater …"

Alice Schwarzer traut sich was. Sie zieht mit ihrer Freundin ins wilde Schwabing, weil es dort nach Aufbruch riecht, und schlägt sich mit 20 als Empfangsdame einer Bar durch. Später trampt die Lebenshungrige nach Paris, lernt Französisch, jobbt als Au-pair und will Journalistin werden.

"Der Motor meines ganzen Handelns ist die Gerechtigkeit", notiert Schwarzer, "alles andere wäre für mich ein verpasstes Leben."

Zu jener Zeit trägt sie Couture-Minikleider und strahlt auf Fotos wie das Glückskind, das sie eigentlich von Geburt her nie war. Das Leben jedoch ist für Alice Schwarzer wie ein Granatapfel. Sie beißt einfach lustvoll rein.

Die Liebenden von Pont Neuf

Das Mädchen aus Wuppertal kriegt, was es will. Die Traumwohnung im Herzen von Montparnasse, die Stelle als Kindermädchen gleich um die Ecke und den schönen Bruno. Der ist Jura-Student mit drei Schwestern und Wohnung in Saint-Germain. Mit ihm gerät sie in die ersten Vietnam-Demos, mit ihm feiert sie, die Deutsche, den 20. Befreiungstag von den Deutschen. Sie sind die Liebenden von Pont Neuf, zehn Jahre lang. Die Blonde und Bruno wollen sogar heiraten. Sie schreibt ihm, als sie 1966 ein Zeitungsvolontariat bei den "Düsseldorfer Nachrichten" antritt, 143 Briefe in 275 Tagen. Nein, Kinder wollen sie nicht unbedingt. Alice Schwarzer schreibt, diesen Entschluss habe sie nie bereut. Als Mutter hätte sie ihren Weltbestseller "Der kleine Unterschied" nie geschrieben und auch die "Emma" nicht erfunden. Sie ist sehr verliebt. Einmal im Monat steigt sie nun in Köln in den Zug nach Paris, und am Gare du Nord wartet Bruno. Er lernt jetzt Deutsch fur sie. Und auch "Samba, Rumba, Tango, Blues und La Bostella".

1967 fahrt sie nach Essen, weil es dort eine Frauenärztin geben soll, die auch unverheirateten Frauen die Pille genehmigt. Damals schreibt Alice Schwarzer ihre ersten Frauenreportagen. Prostituierte sollen Steuern zahlen. Sie findet das ungerecht, weil die doch nicht einmal "die vollen Bürgerinnenrechte" hätten. Sogar die eigenen Kinder konnten ihnen wegen "unsittlichen Lebenswandels" abgenommen werden! Schwarzer recherchiert beherzt im Bordell und unerschrocken auf der Straße. Beides verhilft ihr im Kollegenkreis zu Ansehen. In Pressekonferenzen wird von nun an nicht mehr nur "Guten Tag, meine Herren", sondern endlich "Guten Tag, meine Damen und Herren" gesagt. Sie ist natürlich die einzige Dame im Saal. Mühsam nährt sich das Eichhörnchen.

"Fräulein Schwarzer", fragt später eine der Frauen am Telefon, "wollen wir nicht eine Zeitschrift fur Prostituierte machen?" Sie ist noch nicht so weit. Sie ist ja erst 24. Erst zehn Jahre später wird sie ihr eigenes Blatt gründen. Damals will sie die Welt sehen, die gerade im Umbruch ist. Sie will Leute kennenlernen, Simone de Beauvoir treffen, Jean-Paul Sartre. Sie kauft sich im Ausverkauf ihr erstes Yves-Saint-Laurent-Stück, "einen Redingote in einer Art schwarzem Kautschuk". Einen Reitermantel. Später in den Siebzigern, als sie längst die berühmte Emanze ist und auf Podien und in Hörsalen streitet, kommt ein braunes Samtkostüm von YSL hinzu. Sie hegt es bis heute, viele Frisuren und Dauerwellen später. Vielleicht, eines Tages, passt es wieder. Jede Frau hat diesen heimlichen Traum. Und ein heimliches Kostüm.

Schwarzer wird im Jahr 1969 jedenfalls erst mal Redakteurin bei der Frankfurter Satirezeitschrift "Pardon". Die schickt sie als Reporterin nach Agadir. Sie soll dort eine Reportage uber den "Club Med" recherchieren. Kaum da, hat sie Udo Jürgens an der Backe. Ja, manchmal sind die Erinnerungen der Publizistin Schwarzer sogar echt komisch. Und Fallhöhe haben sie auch.

"Am 21. Juli 1969 betritt Neil Armstrong als erster Mensch den Mond und spricht: 'Ein kleiner Schritt fur einen Menschen, ein großer fur die Menschheit.' - Und ich? Ich packe meine Koffer für Paris." Warum sich kleiner machen, als man von sich denkt?

Die "Pionierin der Frauenbewegung" hat die wilden Jahre Deutschlands und Frankreichs nicht bloß miterlebt. Sie hat sie geprägt. Dass Frauen bis 1977 die Erlaubnis des Ehemannes brauchten, wenn sie einen Arbeitsvertrag unterschrieben. Dass bis 1997 die Vergewaltigung in der Ehe eine Art Kavaliersdelikt war. Dass Frauen bestraft wurden, wenn sie abtreiben ließen, all das hat Alice Schwarzer bekämpft. Fur sie galt stets Heinrich Heines Vers "Schlage die Trommel und furchte Dich nicht". Ja, und irgendwann verliebt sie sich in eine Frau, so schreibt sie. Und so ist es bis heute geblieben. Aus der Liebe zu Bruno wurde eine lebenslange Freundschaft. Manchmal treffen sie sich noch in der "Coupole". Doch Bruno sitzt im Rollstuhl. Er hat multiple Sklerose, unheilbar.

"Solange ich lebe, werde ich denken, reden, schreiben und handeln", sagt Alice Schwarzer. Allenfalls wenn das Ende sich ankündigt, stößt selbst die entschlossene Weltverbesserin gelegentlich an ihre Grenzen.

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