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Begriffsmissbrauch Kant, die Deutschen und die Pflicht

Wohl kaum ein deutscher Begriff ist seit der preußischen Geschichte so strapaziert, missverstanden und missbraucht worden wie "die Pflicht".

Wohl kaum ein deutscher Begriff ist seit der preußischen Geschichte so strapaziert, missverstanden und missbraucht worden wie "die Pflicht". Dieser Begriff, den Immanuel Kant wesentlich prägte, wurde in der Vergangenheit oft zur Legitimation von blindem Gehorsam angeführt. Sogar Verbrechen wurden zur Pflichtsache erklärt.

Der Schriftsteller Siegfried Lenz hat in der Erzählung "Ein Kriegsende" oder in seinem berühmten Roman "Deutschstunde" "die unmenschlichen Folgen eines auf blinden Gehorsam und Gesetzestreue reduzierten Pflichtbegriffs literarisch eindrucksvoll beschrieben", sagt Nobelpreisträger Günter Grass. "Ich war bei Kriegsende 17 Jahre alt und bin von frühester Jugend an, von Jungvolk und Hitlerjugend bis in die kurze Militärzeit hinein, mit solchen Kategorien aufgewachsen. Und es hat mich große Anstrengung gekostet, das nach 1945 mehr und mehr abzuschütteln."

Perversion des Pflichtbegriffs

Die unglaublichste Perversion des Pflichtbegriffs verkörperte Adolf Eichmann, der technokratische Organisator des Holocaust. Beim Polizeiverhör in Israel soll, wie Hannah Arendt in dem Buch "Eichmann in Jerusalem" schreibt, der Nazi-Scherge mit großem Nachdruck beteuert haben, "sein Leben lang den Moralvorschriften Kants gefolgt zu sein, und vor allem im Sinne des kantischen Pflichtbegriffs gehandelt zu haben".

Die entlastende Funktion der Pflicht

Einen einseitigen Pflichtbegriff und daraus abgeleiteten Untertanengeist spießte bereits Heinrich Mann in seinem Roman "Der Untertan" (1918) auf. Eine solche Sichtweise könne - da keine eigene verantwortete Entscheidung zu treffen ist - eine entlastende Funktion haben, betont der Tübinger Philosoph Otfried Höffe. "Solches Denken hat überhaupt nichts mit Kants Entwurf einer Moralphilosophie zu tun." Kant setzt auf den selbstständigen Gebrauch der eigenen Vernunft. Er sieht die Pflicht, nach dem allgemeinen Sittengesetz zu handeln. Hierfür stellt er ein objektives Kriterium auf - seinen berühmten kategorischen Imperativ: "Handle so, dass die Maxime (=subjektive Verhaltensregel) deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könnte."

Keine Befehle, sondern Pflichten

Kant verpflichtet also den Einzelnen, über sein eigenes Handeln Rechenschaft abzulegen. Und der Philosoph formuliert einen klaren Maßstab: nicht irgendwelche Befehle genügen, sondern es gibt universalistische Pflichten wie zum Beispiel das Verbot von Lüge und Betrug oder das Gebot, Notleidenden zu helfen. Auf der anderen Seite hat Kant auch so genannte äußere Pflichten benannt, wie Höffe erklärt. Kant habe das Befolgen von Gesetzen für selbstverständlich gehalten, sofern sie seinem kategorischen Rechtsimperativ genügen.

Entwertung des Pflichtbegriffes führt zu Verantwortungslosigkeit

Einen Missbrauch des Pflichtbegriffes bis hin zum Kadavergehorsam kann sich Grass in der heutigen Gesellschaft nicht mehr vorstellen. Als Gegenbewegung des Missbrauchs sei aber "eine völlige Entwertung des Begriffs die Folge". "Dann geht es in Beliebigkeiten hinein und in Verantwortungslosigkeiten." Der Schriftsteller kritisiert, "dass der Kantsche Pflichtbegriff, wo er bei uns bis in die Verfassung hinein wirksam geworden ist, zum Beispiel der Paragraf 'Eigentum verpflichtet', nicht wahrgenommen wird". Die Diskrepanz zwischen über vier Millionen Arbeitslosen und Schwindel erregenden Abfindungen an Spitzenmanager mache deutlich, "dass die Vorschrift der Verfassung 'Eigentum verpflichtet' leider wirkungslos geblieben ist". In gedankenlosen Wortprägungen wie "Ich AG" werde zudem der Egoismus, das Einsetzen der Ellenbogen, zum Wertmaßstab gemacht.

Grass erinnerte an gute Vorsätze nach dem Krieg. «Es waren moralische und soziale Verpflichtungen, die man sich auferlegte, und das war ein Erfolgsrezept. Das haben wir offenbar vergessen, wir sind heute dabei, das, was uns einmal zum Erfolg geführt hat, Stück für Stück abzubauen», kritisiert Grass fehlendes Verantwortungsbewusstsein in der Tradition Kants in Politik und Wirtschaft. Selbst die Steuerpflicht werde oft nicht mehr erfüllt, und all jene Arbeitnehmer, die nicht irgendwelche Sperenzchen beim Steuerzahlen machen können, werden auch noch ausgelacht, so als seien sie die Dummen."

Matthias Hoenig, DPA DPA

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