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"Wie geht gut?" Wie können wir anständig und nachhaltig leben? Eine Reise zu Menschen, die es wissen müssen

Anstand und Nachhaltigkeit: Wie gelingt ein gutes Leben?
Gedanken zu Nachhaltigkeit und Anstand: "Klar, wir fahren mit dem Rad zur Arbeit – und doch fliegen dann im Urlaub für zwei Wochen in die Karibik. Es hilft schon mal, in Ruhe zu überlegen: Was ist mir wirklich wichtig?"
© Anne Moldenhauer/stern
Wir wollen anständig leben und nachhaltig, im Einklang mit uns selbst, unseren Mitmenschen und der Natur. Doch wie kann das funktionieren? Noch nie hatten wir so viele Optionen wie heute, das macht es so kompliziert. Ein Besuch bei fünf Menschen, die es wissen müssten.
Von Tobias Schmitz

Milch war alle. Ich stehe vor der Kühltheke im Supermarkt. Greife beherzt ganz nach unten, wo die spärlich bedruckten Packungen für 70 Cent stehen. Da fällt mein Blick auf die Ware etwas höher im Regal. 99 Cent. Die Verpackung zeigt überaus zufriedene Kühe in grünen Landschaften. 30 Cent mehr für Kuhglück? Da bin ich dabei. Ich habe die Tüte schon fast in der Hand, als mir einfällt, dass es vielleicht noch etwas Nachhaltigeres gibt, im Laden nebenan. Biomilch aus der Region. Die Packung verspricht: "Faire Preise für unsere Bauern".

Regionalbiofairnessmilch

Ich schließe kurz die Augen. In meiner Fantasie stapft ein bärtiger Landwirt mit wettergegerbtem Gesicht auf mich zu. Der Mann sieht aus wie der Alm-Öhi aus "Heidi". Er reicht mir seine riesige, raue Pranke. Tränen stehen in seinen wachen Augen. "Danke", sagt er, "dass du meine Regionalbiofairnessmilch gekauft hast. Deinetwegen konnte ich meinen sieben Kindern warme Kleidung für den Winter kaufen. Du hast das Richtige getan."

Ich öffne die Augen und stürme zur Fairnessmilch nebenan. Nehme gleich fünf Liter zu 1,19 Euro, damit mein Fantasie-Regional-Alm-Öhi auch das Frühjahr gut übersteht. Doch meine Zufriedenheit schwindet schon an der Kasse. Ich komme mir so verlogen vor. Weil ich merke: Die Biomilch ist mein Feigenblatt. Es verhüllt gnädig mein schlechtes Gewissen. Denn habe ich nicht neulich erst Billigkleidung für drei Euro gekauft?

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Ich verhalte mich so häufig entgegen meinen Überzeugungen. Weiß eigentlich genau, dass mein Verhalten falsch ist, bin aber zu bequem oder zu geizig, es konsequent zu ändern. Und ich frage mich: Richtig leben – was heißt das? Gutes zu tun? Gutmensch ist ein Schimpfwort. Die Briten bringen es viel besser auf den Punkt: How to be good? Ich frage mich also: Wie geht gut?

Inventur

In Gedanken schreibe ich eine Liste. Vergleiche das, was mir richtig vorkommt, mit dem, was ich irgendwie falsch finde, aber aus diversen Gründen nicht ändere.

Richtig:

• Ich versuche da zu sein, wenn andere mich brauchen.

• Ich versuche, Rücksicht zu nehmen, wo es mir notwendig erscheint.

• Ich schreibe auf dem Elternabend meines Sohnes das Protokoll,

obwohl ich dazu keine Lust habe.

• Ich esse wenig Fleisch.

• Ich fahre viel Fahrrad.

• Ich trinke Leitungswasser.

• Bücher bestelle ich nicht bei Amazon, sondern beim überaus freundlichen Herrn Pankow im Antiquariat um die Ecke.

• Ich fliege selten und heize eher sparsam.

• Ich trenne penibel den Müll.

• Ich spende Geld.

Falsch:

• Ich fahre einen zwölf Jahre alten, stinkenden Dieselfresser.

• Ich fluche über Autofahrer, die bei Dunkelgelb noch über Ampeln heizen, aber nehme es da selbst nicht so genau.

• Ich bestelle sehr häufig im Internet und lasse mir alles Mögliche nach Hause liefern.

• Ich bekleide kein Ehrenamt.

• Ich kaufe vor allem beim Discounter.

• Ich besitze spottbillige Supermarktkleidung.

• Ich produziere Berge von Plastikmüll.

• Ich werfe Lebensmittel weg und esse Problemfisch wie Thunfisch, Rotbarsch, Zuchtlachs.

• Ich schiebe jeden Monat ein paar Euro in einen Indexfonds, von dem ich keine Ahnung habe, in welche Branchen er investiert.

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Wie geht gut? Zu allen Zeiten haben sich Menschen auf die Suche nach dem richtigen Leben, der richtigen Lebensführung gemacht. Haben sich gefragt, welche Werte zählen. Wer im riesigen Wissensschatz der Vergangenheit sucht, wird bei Weisen und Gelehrten aus Griechenland oder China fündig, bei Sokrates, Konfuzius und vielen anderen. Auch Christen verfügen über klare ethisch-moralische Maßstäbe, unmissverständlich formuliert in den Zehn Geboten.

Du sollst nicht töten – ja, das hilft mir auch heute noch weiter. Aber längst wünsche ich mir das eine oder andere Zusatzgebot. Vielleicht so was wie "Du sollst nicht im Internet kaufen, wenn dir lebendige Innenstädte wichtig sind". Oder "Du sollst nicht auf dein Handy starren, während deine Kinder dich brauchen". So was in der Art. Und ich frage mich: Hätte Jesus seine neuen Sandalen im Internet bestellt? Würde Konfuzius heute noch Fleisch essen? Würde Sokrates Obst verschmähen, nur weil es aus Neuseeland importiert wurde?

Öko-Fetischist

Es ist schwieriger geworden, das Richtige zu tun, weil sich unsere Handlungsoptionen so ungeheuer vermehrt haben. Noch in der Generation meiner Großeltern ernährten sich viele Menschen von dem, was im eigenen Garten wuchs. Im Winter gab's keine Tomaten. Und damit auch nicht die Fragen nach ökologischer Verträglichkeit, nach Lieferketten, CO2-Footprint und fairem Handel.

Wahrscheinlich hat in einer globalisierten Welt auch der letzte Bewohner eines Industrielandes begriffen, dass sein Konsumverhalten Auswirkungen hat – über den Horizont des eigenen Lebens hinaus. Weil wir viel wissen, müssten wir eigentlich entsprechend handeln. Denn es hat Auswirkungen, wenn – wie im vergangenen Jahr – 4,1 Milliarden Menschen in ein Flugzeug steigen. Es hat Auswirkungen, wenn für die Herstellung eines Billig-T-Shirts etwa 2500 Liter Wasser benötigt werden. Oder wenn die Produktion eines einzigen Kilos Fleisch je nach Rechnung 15 bis 30 Kilogramm Kohlendioxid erzeugt.

"Wie geht gut?": Wie können wir anständig und nachhaltig leben? Eine Reise zu Menschen, die es wissen müssen

Trotzdem bin ich immer wieder in einem Dilemma. Wir sollen mobil und flexibel sein, aber möglichst nicht pendeln. Die Miete wird immer teurer und das Geld nicht mehr, aber superbillige Kleidung zu kaufen kann nicht richtig sein. Alles hat seinen Wert. Welchen Werten folge ich? Und was hat das für Folgen? Bestelle ich beim Ökobauern die Biogemüsekiste, wird die von einem Diesel-Transporter quer durch die Stadt bis vor unsere Haustür geliefert. Kaufe ich Fairtrade-Bananen im Supermarkt, sind die zusätzlich in Plastik verpackt, während die normalen Bananen ohne diese Extrahülle auskommen. Und jetzt?

Wie nachhaltig ist es, sein halbes Leben im Biosupermarkt zu verbringen, aber mehrmals im Jahr in den Urlaub zu fliegen? Wer spart mehr Ressourcen? Der wohlhabende Öko-Fetischist, der auf 180 Quadratmetern residiert? Oder die Mittelschichtfamilie, die sich nur halb so viel Platz leisten kann und Industriefleisch vom Discounter kauft?

Wie geht gut? Etwas tun wollen wir fast alle – zumindest sagen wir das den Meinungsforschern: 85 Prozent der Deutschen geben an, im Haushalt Energie zu sparen, 81 Prozent würden einen bescheideneren Lebensstil führen, wenn das einen Beitrag zur Begrenzung der Erderwärmung leisten könnte. 74 Prozent verzichten nach eigenen Angaben häufiger auf die Nutzung von Plastiktüten. 57 Prozent essen angeblich weniger Fleisch, 49 Prozent sagen, sie ließen das Auto öfter stehen, 46 Prozent erklären, weniger zu fliegen.

"Mind Behaviour Gap"

Allerdings stellen Wissenschaftler einen "Mind Behaviour Gap" fest, also eine Diskrepanz zwischen dem, was die Leute sagen und was die Leute tun. Beispiel Fleischkonsum: Laut Umfragen geben 25 Prozent der Konsumenten an, "immer" oder "oft" Biofleisch zu kaufen. Sonderbar, denn Experten schätzen, dass der Anteil an Biofleisch auf deutschen Tellern bei nur etwa zwei Prozent liegt. Wie das zusammenpasst? Gar nicht. Offenbar ist es leicht, das Richtige zu wollen, und viel schwerer, das Richtige zu tun. Klimaschutz? Geht uns alle an. Dafür müssten wir unser Verhalten verändern. Tun wir aber nicht. Wir verhalten uns nicht rational, wie es die Theorie vom "Homo oeconomicus" eigentlich vorsieht, sondern immer wieder irrational. Der Wirtschaftsnobelpreisträger Richard Thaler beschreibt es in seinem Buch "Misbehaving": Wir sind fehlbar.

Es gibt sie längst, jene Entscheidungshilfen für ein gutes, nachhaltiges Leben, aber wir mogeln uns immer wieder um echte Veränderungen herum. Wäre uns die Sache wirklich ernst und wären wir wirklich konsequent, müssten wir uns etwa beim Thema Ernährung nach den Empfehlungen einer internationalen Expertenkommission richten. Wir dürften nur noch halb so viel Zucker und Fleisch konsumieren und müssten dafür doppelt so viel Obst und Gemüse essen. 43 Gramm Fleisch pro Tag gelten als vorbildlich.

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Wie geht gut? Es ist heute praktisch unmöglich, die vielen guten (und gut gemeinten) Tipps im Internet zu übersehen, mit denen ich Ökosau zu einem besseren Menschen erzogen werden soll. Selbst Geschenkpapier gilt inzwischen als Teufelswerk. Auch Waschmittel sollte ich offenbar am besten nicht kaufen, sondern selbst herstellen, etwa aus Kastanien oder Efeu. Dass ich als Mann so gerade eben um die Verwendung einer Menstruationstasse (statt Tampons) herumkomme, erleichtert mich sehr.

Muss ich gleich zum Öko-Extremisten werden, um verantwortungsvoll zu leben? Wir Deutschen produzieren mit 220 Kilo Verpackungsmüll pro Person und Jahr deutlich mehr als der Durchschnitt in Europa. Aber hilft es der an Plastikabfällen verendenden Meeresschildkröte, wenn ich im Supermarkt auf eingeschweißte Tortellini verzichte?

Als größte Verschmutzer der Weltmeere gelten Länder wie China, Indonesien oder Indien. Dennoch bin auch ich betroffen, habe meinen Teil dazu beigetragen, dass sich die Menge des Plastikabfalls in Deutschland in den letzten 20 Jahren fast verdoppelt hat. Einigermaßen fassungslos erfahre ich, dass das ganze deutsche Recyclingsystem für Verpackungen ein einziger großer Betrug an uns eifrigen Mülltrennern ist: Nicht mal sechs Prozent unseres Plastikmülls kehren nach Expertenschätzung wieder in den Herstellungskreislauf zurück. Der Rest wird verbrannt oder landet auf riesigen Halden, etwa in Malaysia.

Wie geht gut?

Wie geht gut? Je mehr ich mich als Konsument informiere, desto verwirrter werde ich: Etwa 1000 verschiedene Qualitätssiegel buhlen auf deutschen Produkten um meine Aufmerksamkeit. Aber verbindliche Standards fehlen. Bio ist nicht gleich Bio, Fleisch nicht gleich Fleisch. Allein für Schweinefleisch listet Greenpeace sieben verschiedene Qualitätssiegel auf. Bei Textilien sind es acht.

Selbst bei der Geldanlage fehlen klare Orientierungspunkte. Ehrensache, dass ich mein Geld nicht wissentlich in Waffenfirmen stecke. Wären "grüne" Fonds eine Alternative? Wahrscheinlich. Aber wie "nachhaltig" die Geldanlage tatsächlich ist, bleibt die große Frage. Auch hier: keine einheitlichen Standards.

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Ich muss mir meine ethischen Maßstäbe für das Leben von heute also selbst zurechtzimmern. Vielleicht, indem ich bei großen Denkern abkupfere? Hilfreich wäre jetzt, wenn bei "Hart aber fair" die Herren Aristoteles, Immanuel Kant und John Stuart Mill diskutierten: Entspringt das gute Tun einem guten Charakter? Oder bringen gute Taten erst den guten Charakter hervor? Oder geht es allein um die Handlung selbst, um die Pflicht also, sich seines Verstandes zum Wohle aller zu bedienen, wie es Kant in seinem berühmten kategorischen Imperativ formuliert hat: "Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde."

Mill wiederum würde wohl weder die Motive noch die Handlung betrachten, sondern vor allem ihre Folgen in den Blick nehmen und sagen: Gut ist, was Gutes nach sich zieht. Gut und richtig also ist das, was den größten Nutzen für alle bedeutet, die von einer Handlung betroffen sind. Wäre es demnach gut, Kinderarbeit zu bestrafen, auch wenn in manchen Ländern die Kinder noch immer das Einkommen ihrer Familie sichern?

Ich komme nicht weiter. Und beschließe, mich auf eine kleine Reise durch Deutschland zu machen – zu Menschen, die sich mit dem, was gut und richtig ist, auskennen sollten: zu einem Ethiker und Theologen, einem Politiker und Aktivisten, einer Geistlichen, einer Umweltschützerin – und zu einem alten Menschen mit Lebenserfahrung. Also: Wie geht gut?

Der Aktivist und Politiker

Ein kleines Café in Berlin-Kreuzberg. Ich bin mit einem Querkopf verabredet. Jan van Aken, 57, studierter Biologe, war unter anderem Gentechnik-Experte bei Greenpeace, UN-Inspekteur für biologische Waffen und saß für die Linken acht Jahre lang im Deutschen Bundestag. Zur Verabredung erscheint er in Jeans, grauem Kapuzenpullover und weißem T-Shirt. Ist das fair gehandelt? Van Aken stutzt. Dann grinst er, zieht sich die graue Jacke und das Shirt über den Kopf. Nun sitzt er mit nacktem Oberkörper im Café und untersucht das eingenähte Herstellerschild des T-Shirts. Ein Biolabel. Van Aken atmet auf. "Das habe ich schon viele Jahre. Ziemlich gute Qualität. Aber versuchen Sie mal, für einen Einssechsundneunzig-Mann wie mich einen Öko-Kapuzenpulli zu finden. Fast unmöglich."

Schon sind wir im Thema. Wie verhalte ich mich richtig – und wo liegen die Grenzen meines Handelns? "Ich kann mich nicht immer und überall perfekt verhalten", sagt van Aken, "unser Leben steckt voller Widersprüche, und damit müssen wir leben. 'Gut' leben geht nicht, besser und bewusster leben geht aber schon." Bedeutet: Die Rettung der ganzen Welt dauert noch ein bisschen.

Kein Grund, in Pessimismus zu verfallen. Es tue gut, sich zu vergegenwärtigen, dass Wandel in verschiedenen Bereichen möglich sei: "Atomkraft? Wir sind ausgestiegen. War lange Zeit undenkbar. Gentechnik? Gibt es in Deutschland praktisch nicht. Mindestlohn? Haben wir. Hambacher Forst? Unser Bewusstsein ändert sich. All das macht mir Mut."

Van Aken sagt, er glaube "zu 100 Prozent" an das Gute im Menschen. "Ich verstehe, dass wir uns von all den Entscheidungsoptionen überfordert fühlen", sagt er. Aber es helfe schon, sich von dem Druck zu befreien, immer und überall das Maximale erreichen zu wollen. "Ich mag keine Öko-Verkniffenheit, denn Verkniffenheit macht hässlich."

Autonomie und Unabhängigkeit

So steigt van Aken durchaus ins Flugzeug – aber nie gedankenlos. Er kauft ganz bewusst auch mal den Nichtbio-Käse – einfach, weil der ihm schmeckt. Oder isst im Fußballstadion die ganz normale Bratwurst – weil sie für ihn dazugehört.

Er wägt ab, was für ihn geht und was nicht. Onlineshopping, zum Beispiel, geht nicht. Oder Dinge zu kaufen, nur weil sie billig sind. Neulich war er erkältet und wollte sich eine Hühnersuppe kochen. Ein Huhn aus Massentierhaltung kostet ein paar Euro, ein Biohuhn 25. Das war ihm zu teuer. Also hat er sich nur ein halbes Biohuhn gekauft. "Wir kommen jeden Tag an solche Entscheidungspunkte. Wo es einfach sinnvoll ist, drei Sekunden innezuhalten. Um sich klarzumachen, was man gerade tut. Und um die eigene Trägheit zu überwinden."

Es gibt, glaubt man van Aken, viel zu tun. Kohleausstieg, eine neue Friedensbewegung, neue Ideen für Mobilität. "Wir sind 82 Millionen Menschen", sagt van Aken. "Wenn jeder für sich etwas tut, verändert sich etwas. Warum nicht in eine Gewerkschaft eintreten, sich einmischen, ein Ehrenamt annehmen, politisch handeln?"

Van Aken verabschiedet sich. Seinen Kaffee zahlt er selbst. Auch das ist seine Überzeugung: Autonomie und Unabhängigkeit sind wichtig. Ich fahre zurück nach Hamburg.

Der Umweltschützer

Die Büros von Greenpeace Deutschland in der Hamburger Hafencity sind auf mehreren Stockwerken um ein Atrium gruppiert, das als Ausstellungsfläche dient. Über den interaktiven Exponaten hängt, wie eine moderne Skulptur, eine etwa zehn Meter hohe, strudelförmige Installation aus Plastikmüll. Mit der Ausstellung gibt Greenpeace mir ein paar Denkanstöße:

Ein Durchschnittsdeutscher besitzt etwa 10.000 Dinge.

Alle menschengemachten Dinge wiegen 60.000-mal so viel wie alle Menschen zusammen.

Jeder Deutsche kauft etwa 60 Kleidungsstücke im Jahr. Kleidung wird immer seltener repariert, sondern einfach weggeworfen. Etwa die Hälfte der Deutschen war noch nie beim Schneider.

60 Prozent unserer Kleidung besteht aus Kunstfasern. Ein einziges Kleidungsstück kann bei der Wäsche 700.000 Kunstfasern verlieren, die als Mikroplastik ins Abwasser gelangen.

Insgesamt landen etwa sechs bis zehn Prozent des weltweit produzierten Plastiks im Meer.

Wie gehen Menschen, die für Greenpeace arbeiten, selbst mit all diesen Zahlen um? Gelingt ihnen das "gute, richtige" Leben? Ich frage Roland Hipp, seit 2002 in der Geschäftsführung von Greenpeace Deutschland. "Ich sehe die Herausforderung, die viele Menschen beim Einkaufen haben", sagt er, "denn ich weiß bei vielen Produkten auch nicht, was hinter den Versprechungen steckt." Schon beim Thema Bahnfahren sei die Verwirrung der Verbraucher groß: "Ich fahre fast nur mit der Bahn. Das Unternehmen sagt mir: Du fährst grün. Ohne Emissionen. Stimmt aber nicht. Das ist ein rechnerischer Wert, der bisher nur für den Fernverkehr gilt. CO2 wird also trotzdem produziert. Da gibt es erst Klarheit, wenn die Bahn vollständig auf regenerativen Strom umgestiegen ist. Solange das nicht geschieht, wäre die Fahrt mit einem vollbesetzten Bus ökologischer als der ICE."

Nachhaltigkeit bei Konsum und Sozialverhalten

Dem Greenpeace-Geschäftsführer ist sehr bewusst, wie schwierig es ist, richtig zu handeln, selbst mit allem Wissen als Umweltschützer. Er hat daher Felder definiert, die ihm besonders wichtig sind – und wo Veränderung im Kleinen funktionieren kann. "In diesen Feldern bin ich gut informiert und entscheide sehr bewusst", sagt Hipp. "Ich kaufe Bioprodukte, die die strengen Standards einhalten und nicht nur die deutlich schwächeren EU-Anforderungen. Ich esse kein Fast Food und kein Fleisch. Ich steige innerhalb Deutschlands nicht ins Flugzeug, nutze Ökostrom, was meine CO2-Bilanz extrem verbessert, und meine Fahrten mit einem Auto sind sehr begrenzt."

Hipp will sich moralisch nicht überlegen fühlen. Er verurteile nicht, sagt er. Aber es gebe gerade beim Thema Konsum Aspekte, zu denen er immer wieder gern diskutiere: "Muss es beim Essen immer Fleisch sein und in diesen Mengen? Ist bekannt, wo und unter welchen Umständen das Tier gelebt hat?"

Würde die Welt eine bessere werden, wenn sich alle Menschen so verhielten? Da hat Hipp eine klare Position: "Ich bin fest davon überzeugt, dass jeder etwas zur Veränderung beitragen kann, auch wenn es nur kleine Schritte sind. Wenn viele Menschen anders einkaufen, dann macht das richtig Druck auf die Hersteller. Was die Konsumenten nicht kaufen, wird mittelfristig von den Unternehmen auch nicht mehr angeboten. Das ist gelebte Wirtschaftspolitik. Von den verantwortlichen Politikern wünsche ich mir, dass sie viel stärker im Sinne der Konsumenten entscheiden und nicht nur für die Unternehmen. Also für gesundes Essen und nachhaltige und umweltverträgliche Produkte."

Wieder ging es in dem Gespräch vor allem um nachhaltigen Konsum. Gibt es nicht auch so etwas wie nachhaltiges Sozialverhalten? Ich frage bei einem Experten für Ethik an.

Der Ethiker

Peter Dabrock sitzt im Intercity-Express Richtung Hannover und kämpft mit dem Handynetz. Der 54-jährige Professor für evangelische Theologie an der Universität Erlangen-Nürnberg reist als gefragter Diskussions- und Gesprächspartner quer durchs Land. Er ist auch Vorsitzender des Deutschen Ethikrats, in dem unabhängige Experten zu ethischen Fragen Stellung nehmen: Welche Folgen haben Entwicklungen in Naturwissenschaften, Medizin, Theologie, Philosophie, Ökonomie oder Justiz für den Einzelnen und die Gesellschaft? Es geht dabei nicht um das richtige Handeln des Einzelnen, sondern um den Versuch, gesellschaftliche Veränderungen einer ethisch-moralischen Beurteilung zu unterziehen.

Dabrock möchte nicht als Ethikrat-Vorsitzender, sondern als individueller Wissenschaftler mit mir sprechen – darauf legt er großen Wert. "Meine Eltern und Großeltern haben den Krieg erlebt", sagt Dabrock, "und auch vor diesem Hintergrund sind mir Rechtsstaatlichkeit und Demokratie so wichtig. Mir liegt alles an einem politischen System, in dem das Wohl der Gemeinschaft nicht einfach den Interessen der Einzelnen geopfert wird. Das aber geht nur mit Kompromissbereitschaft. Wer es schafft, seine eigenen Interessen wichtigen Zielen der Gesellschaft unterzuordnen, ohne sich und seine Überzeugungen zu verleugnen, hat schon viel erreicht."

Spontan fällt ihm Ex-Kanzler Gerhard Schröder ein: "Dieser angebliche Ego-Politiker hat seine politische Karriere für die Durchsetzung der Arbeitsmarktreformen aufs Spiel gesetzt, weil er davon überzeugt war, dass sie dem Gemeinwohl dienten. Davor habe ich Respekt."

Und wie geht das ganz im Kleinen? Wer könnte darüber etwas zu sagen haben? Vielleicht einer, der schon lange auf dieser Welt lebt, der Krieg und Elend kennt und der das Gute deshalb umso mehr zu schätzen weiß. Dieser Mensch wurde kurz nach dem Ersten Weltkrieg geboren, im selben Jahr, in dem in Paris der Versailler Vertrag geschlossen wurde. Er besitzt kein Handy und war noch nie mit dem Flugzeug auf Mallorca. Von Hamburg fahre ich ins Ruhrgebiet. Zu meinem Opa.

Mein Opa

In einem freundlichen Seniorenheim in Mülheim an der Ruhr lebt mein Großvater Klemens. Er steht im hundertsten Lebensjahr, oder besser gesagt: Meist sitzt er. Seine Beine wollen nicht mehr ganz so, wie er will. Geistig aber nimmt mein Opa es bei einem Stück Kuchen und einer Tasse Kaffee mit jedem 60-Jährigen auf.

"Wie geht gut?" Er denkt lange nach. "Das muss jeder für sich entscheiden. Aber die Menschen sind heute so beansprucht von Verpflichtungen, dass sie gar nicht mehr zu sich selbst finden. Alle haben nur noch Termine, und wenn sie mal frei haben, ruiniert ihnen das Handy den Tag. Wie soll man da Muße finden, über die eigenen Wertmaßstäbe überhaupt nachzudenken?"

Er beißt in ein Stück Obstkuchen. "Das Richtige und Gute zu tun bedeutet für mich: sich selbst als einmaliges Wesen zu sehen, das in eine Gemeinschaft von Gleichen eingebunden ist." Er redet von einsamen Menschen, die sich selbst und anderen bei all ihrem Streben nach Erfolg und Geld fremd geworden sind. "Wir Menschen sind soziale Wesen, und es ist gut und richtig, diese Bindungen zu festigen. Familiäre Bindungen sind notwendig im Wortsinne: Sie wenden die Not. Das Richtige zu tun heißt für mich: Verantwortung für sich und für andere zu übernehmen. Gemeinschaft prägt. Ein guter Mensch ist für mich der, der Haltung zeigt, der aktiv für andere eintritt, auch gegen Widerstände. Der aber dabei tolerant bleibt – und den Humor nicht verliert. Es wäre vielleicht hilfreich, wenn sich ein jeder am Ende eines Tages fragen würde: Wie viel Freude habe ich heute bereitet – und wie viel hätte ich verbreiten können?"

"Wie geht gut?": Wie können wir anständig und nachhaltig leben? Eine Reise zu Menschen, die es wissen müssen

Ich spreche mit Opa über frühere Zeiten. Als ich ein Kind war, sangen meine Großeltern im Kirchenchor, im Altenberger Dom, einem der schönsten Gotteshäuser, die ich kenne. Die Kirche im Erzbistum Köln beherbergt zugleich eine katholische und eine evangelische Gemeinde. Ich war lange nicht mehr da. Pfarrerin Claudia Posche ist die Schwester einer Kollegin von mir und eine lebenskluge Frau. Ich bitte um ein Treffen.

Die Pfarrerin

Claudia Posche, Protestantin, 58 Jahre alt, führt mich durch den Dom und erklärt mir die Motive der herrlichen Kirchenfenster. Die Pfarrerin wirkt vollkommen im Reinen mit sich und dem Leben. Wie geht gut? Spontan fällt ihr ein Mann aus ihrer Gemeinde ein, 70 Jahre alt, freundlich und interessiert. "Ein kluger, klarer Beobachter, der sagt, was er denkt. Der keine Angst hat vor Obrigkeiten, sondern Hilfe leistet, wenn er erkennt, dass andere Hilfe brauchen. Ein guter Mensch blickt über den Horizont des eigenen Lebens hinaus und nimmt wahr, was für andere zu tun ist. Aber er bringt sich auch selbst Achtung und Respekt entgegen. Er gibt nicht seine eigenen Bedürfnisse für andere auf."

Ich verabschiede mich – und mache mich auf den Heimweg. Und versuche den Wust der Gedanken und Ideen zu ordnen. Was ist mir wirklich wichtig? Die Familie. Gemeinschaft, Freunde. Lebensmittel zu fairen Preisen. Brauche ich tatsächlich ein Auto? Und könnte ich mich nicht auch außerhalb von Familie und Beruf engagieren? Ich will keiner dieser Gutmenschen werden, die sich anderen moralisch überlegen fühlen, aber ich will irgendwo anfangen.

Zurück in Hamburg kaufe ich ein Stück Seife, so wie ich sie als Kind ganz selbstverständlich benutzt habe. Ich fange ganz klein an. Unverpackte Seife statt Duschgel in Plastikflaschen. Ich komme mir vor wie ein Öko-Rebell. Dieser Rebell muss nicht die Welt retten, und diese Erkenntnis tröstet. Laotse sagt, auch der längste Marsch beginne mit einem ersten Schritt. Kürzlich hat die EU die ersten Verbote für Wegwerfartikel aus Plastik auf den Weg gebracht. Und auch mein Stück Seife ist: ein Anfang.

Kosmetik ohne Mikroplastik

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