Jeder, der vor einer Woche wusste, wer Herta Müller ist, bitte die Hand heben! Ach, doch so viele? Sieh mal einer an. Und Kathrin Schmidt? Irgendjemand? Nein? Ich gebe es zu, mir waren die beiden Damen unbekannt. Nun sollen Nobel- und Buchpreise uns vielleicht auch zeigen, dass es da draußen noch eine literarische Welt jenseits von Feuchtgebieten und Elfen-Abenteuern gibt. Trotzdem: Wenn die Jurys im Herbst die Namen der Preisträger verkünden, fühlt es sich oft so an, als habe man das Klassenziel wieder mal verfehlt. Literarisches Wissen? Sechs, setzen! Sicher, es gibt auch tolle Schmöker-Autoren, die den Nobelpreis bekommen haben, so wie Gabriel Garcia Márquez oder John Steinbeck. Doch von den meisten haben die wenigsten von uns je etwas gehört, geschweige denn gelesen. Und so manche, von denen wir gehört haben, möchten wir, wenn wir ganz ehrlich sind, gar nicht lesen.
Doch darf man zugeben, dass einem diese oft so schwere Kost nicht schmeckt? Dass Gerhardt Hauptmann in der Schule eine Qual war, Thomas Mann sich gerne hätte kürzer fassen können oder dass ein Günther Grass manchmal einfach nur nervt? Romane, so scheint es, sind hochliterarisch nur relevant, wenn die Figuren an Selbstzweifeln und widrigen politischen Systemen zerbrechen, gegen schwere körperliche Gebrechen kämpfen oder im Arbeitslager über Hunger phantasieren. Gute Literatur, so könnte man meinen, darf auf keinen Fall leicht zu lesen sein. Lachen darf man schon gar nicht. Sonst wäre sie ja trivial. Und Triviales darf man nicht gut finden. Oder doch?
Vampire und Feuchtgebiete
Schon ein kurzer Blick auf die Beststellerlisten zeigt, dass "Landschaften der Heimatlosigkeit" (die Nobel-Jury über Müller) nach einem langen Arbeitstag bei den meisten von uns keine Chance haben gegen die Frage, wann der niedliche Vampir Edward Cullen endlich mit seiner rothaarigen Freundin Bella schläft. Seit dem Erscheinen des ersten deutschen Bandes 2006 steht Stephenie Meyers Vampir-Teenie-Drama ganz oben auf der "Spiegel"-Liste. Fünf Millionen Exemplare wurden allein in Deutschland verkauft. Gibt es überhaupt noch so viele Teenager, die lesen? Wohl kaum. Der Verlag hat da eher die Mütter in Verdacht, will das aber nicht offiziell verkündet wissen. Auch wer die 1,3 Millionen Leser sind, die 2008 die "Feuchtgebiete" von Charlotte Roche kauften, wird wohl niemand erfahren. Oder kennen Sie jemanden, der zugibt, das Buch durchgelesen zu haben?
Wie praktisch, dass ein Ausflug in den Buchladen oder zu Amazon so herrlich anonym ist. Da merkt keiner, dass wir nicht bei der Hochkultur stöbern, sondern eher auf den Tischen, wo in dicken Stapeln liegt, was wir Deutschen am liebsten lesen: düstere skandinavische Krimis, herrlich kitschige historische Romane über Wanderhuren und Päpstinnen, wortreiche Zauberwelten, in denen Jungs im Drachenkampf zu Männern reifen oder Elfenköniginnen versuchen, ihr Phantasiereich vor dem Untergang zu bewahren.
Mit der literarischen Hochkultur ist es wie mit dem Essen. Die meisten von uns frühstücken lieber Toast statt Müsli und finden Pizza und Currywurst lecker, wohl wissend, dass Gemüse und Vollkorn viel gesünder wären. Wohl aus ähnlichen Gründen überfällt uns immer wieder das Gefühl, dass wir doch eigentlich die wichtigen, literarisch wertvollen Bücher lesen und über sie diskutieren sollten, statt unsere Zeit mit spannenden Krimis zu vertrödeln. Also eilen wir schuldbewusst jedes Jahr nach der Preisverleihung in die Buchläden, um die jeweiligen Nobel- und Buchpreisträger zu erwerben. Herta Müllers "Atemschaukel" wurde so gerade auf Platz zwei der Bestsellerliste katapultiert. Da steht das Buch nun, etwas verloren zwischen Frank Schätzings Mond-Epos "Limit" und "Rauhnacht", dem neusten Kluftinger-Krimi. Von unten drängeln die unverwüstliche Stephenie Meyer, die Thriller von Charlotte Link und Dan Brown sowie romantische Komödien von Cecilia Ahern und Sophie Kinsella.
Gekauft heißt aber noch lange nicht gelesen. Uwe Tellkamps fast tausendseitiger "Turm" gewann 2008 den Deutschen Buchpreis und wurde danach zum perfekten Weihnachtsgeschenk für Menschen, die man beeindrucken wollte. Doch inzwischen liegt wohl ein Großteil der verkauften 250.000 Exemplare un- oder kaum angelesen als mahnender Klotz ganz unten auf den Nachttischstapel. Zu schwer, zu lang, zu kompliziert, so das oft vernichtende Urteil der Laienkritiker in den Buch-Onlineforen. Wer möchte abends schon einen Klotz herumwuchten, dem der Verlag nicht ohne Grund ein Faltblatt mit Namen und Kurzbiographien der Bewohner beigelegt hat, damit der Leser nicht den Überblick verliert? Nein, dann doch lieber ein angenehm gruselig-romantisches Date mit einem kuscheligen Vampir.
Bloß nicht zu viel Realität
Die Deutschen, die überhaupt noch Bücher lesen - nach einer Studie der Stiftung Lesen 2008 fasst jeder Vierte gar keine Bücher mehr an -, wollen Geschichten, in die sie eintauchen und verschwinden können. Je fantastischer, desto besser. Bloß nicht zu viel Realität und wenn doch, dann verfremdet, wie in Ferdinand von Schirachs "Verbrechen" oder ganz lange her und weit weg, wie in Rebecca Gablés englischen Historiengeschichten. Zu kompliziert darf es auch nicht sein, wir sind ein Volk von Häppchenlesern. Wir lesen hier zehn Minuten, dort eine halbe Stunde, mal ein paar Tage gar nicht. Bahnen, Busse, Flugzeuge, Wartezimmer, Toiletten und die letzten zehn Minuten vor dem Einschlafen haben das Sofa als Leseort längst abgelöst. Bücher, die man immer wieder von vorn anfangen muss, weil man vergessen hat, worum es geht, werden da schnell zu Ballast.
Vielleicht war Buchpreisträger Daniel Kehlmann 2005 ja nur deshalb so erfolgreich, weil ihm "Die Vermessung der Welt" so schön schlank geraten war, dass man dem Buch das fisselige Ende leichter verzeihen konnte. Solche Hochliteratur kann man auch in der S-Bahn lesen. Ab und zu ist ja auch ein Filet statt Currywurst ganz nett.