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Vulva Das verschwiegene Sexorgan

Mit ihrer Kulturgeschichte der Vulva verpasst Mithu Sanyal dem Romanerfolg "Feuchtgebiete" von Charlotte Roche einen theoretischen Überbau. Im Gespräch mit stern.de klärt die Autorin auf über gefährliche Sichtweisen und den verheerenden Dreier Sex, Macht und Worte.

Frau Sanyal, wenn Ihre Vagina sprechen könnte, was würde sie sagen?

Ich hoffe, dass man sich gut mit ihr unterhalten könnte.

Der erste Satz Ihrer Vagina?

Nimm mich wahr.

Wie nennen Sie Ihre Vagina?

Vulva.

Was ist denn der Unterschied zwischen Vulva und Vagina?

Die Vulva ist das sichtbare weibliche Genital. Die Vagina ist die Verbindung zwischen den sichtbaren und den inneren Sexualorganen. Irgendwann habe ich gemerkt: Halt, ich selber verwende das falsche Wort für mein eigenes Sexualorgan. Im 17. Jahrhundert haben sich Anatomen überlegt: "Wofür ist das Ding gut? Damit der Mann da sein Schwert rein steckt. Also nennen wir es Scheide - Vagina auf Latein." Damit wurde das sichtbare Genital unsichtbar. Und es hatte keine eigene Funktion mehr. Es war nur eine Scheide für ein Schwert. Es existierte nur im Verhältnis zum männlichen Sexualorgan.

Warum soll man jetzt plötzlich Vulva statt Vagina sagen?

Ich würde ja auch nicht zu Ihrem Penis Hoden sagen. Wenn ich es richtig bezeichne, gestehe ich ein, dass es existiert. Auch medizinisch ist es nicht erforscht. Die Nervenbahnen, die die Erregung vom Hirn zur Vulva transportieren, sind nicht genau untersucht. Das hat geschichtliche Gründe.

Welche?

Dahinter steckt die Idee, dass die Frauen kein eigenes Begehren haben. Die Frauen machen es dem Mann zuliebe. Der Mann hat das aktive Sexualleben. Die Frau ist passiv und lässt ihn gewähren. Das hat etwas mit der Vorstellung unserer Sexualorgane zu tun. Der Mann hat ein Sexualorgan. Die Frau hat ein Loch. Sie ist definiert durch eine Abwesenheit.

Hat man all die Stellen, wo Frauen Begehren empfinden, bewusst verschwiegen?

Das klingt nach Verschwörungstheorie. Ich glaube, eine Ideologie bringt ein falsches Sehen hervor. In den Akten der Inquisition kann man zum Beispiel ein Dokument finden, wo ein Folterer die Klitoris zum ersten Mal entdeckt und als Teufelsmal begreift. Er hatte so etwas zuvor einfach noch nie gesehen. Der Mann war verheiratet. Er hat es anderen gezeigt, die so etwas auch noch nie gesehen hatten. Die Frau wurde verurteilt und hingerichtet. Wir können nicht wahrnehmen, wofür es keine Konzepte gibt.

Sie schreiben, dass der Schwarze Meteorit der Kaaba ursprünglich ein Ort der Verehrung einer Mondgöttin gewesen sei.

Die Priester dort heißen immer noch "Söhne der alten Frau". Der Stein wird von den Pilgern immer noch berührt. Und wenn man sich den anschaut, sieht man die Form einer Vulva.

Das heißt, Millionen von Pilgern berühren jedes Jahr eine Vulva.

Was ja eine schöne Sache ist.

Haben Sie keine Angst zu schreiben, dass Millionen Muslime um einen Vulva-Tempel wandern?

Ich habe eher die Hoffnung, die Muslime denken: Endlich sieht es mal jemand und sagt nicht gleich, wir sind frauenfeindlich.

Sogar im Ritual des "Honey Moon" finden Sie noch Spuren von Vulva-Verehrung.

Bei diesem Ritus wurde Honig auf die Vulva aufgetragen. Dann wurde er abgeleckt.

Freud spricht vom Penisneid der Frau. War in Wahrheit Vulva-Neid der Motor für die abendländische Kultur?

Wenn man sich anschaut, welche Aufmerksamkeit auf die Vulva gerichtet wurde, mit welcher Vehemenz sie verdrängt wurde, sieht man zumindest eine große Obsession am Werk.

Gebärneid seitens des Mannes?

Man hat sich auf jeden Fall daran abgearbeitet. Aber nicht nur Neid. Auch Angst und Begehren.

Laut der US-Wissenschaftlerin Natalie Angier sitzen 8000 Nervenzellen in der Klitoris - doppelt so viele wie im Penis. Können Sie die männliche Furcht vor dieser Übermacht verstehen?

Damit bin ich in den 70ern groß geworden: Der Mann hat den Penis. Die Frau hat die Klitoris, die nur für Erregung zuständig ist. Damit sind Frauen eigentlich überlegen. Das war auch immer ein bisschen deprimierend. Wenn ich einen Mann für den Feminismus gewinnen möchte, sage ich ihm nicht: Guck mal, wir sind überlegen. Ich fand es erleichternd, im Laufe der Recherche mitzukriegen: Männer haben auch eine Klitoris.

Wo bitte ist die nun wieder?

Das ist der Schwellkörper. Was wir in der Klitoris sehen, ist nur die Spitze oder Krone. Dann kommt aber noch die Y-Struktur unter der Haut. Die schwillt in derselben Form an wie der Schwellkörper. Deshalb ist das Gerede von vaginalem Orgasmus versus klitoralem Orgasmus Unsinn. Egal ob die Frau von innen oder außen stimuliert wird, es ist dieselbe Struktur. Was Nervenstruktur, Form, Größe angeht - Klitoris und Schwellkörper sind fast gleich.

Mithu M. Sanyal

Mithu M. Sanyal, geboren 1971, ist indisch-deutscher Abstammung und wuchs in Düsseldorf auf. Sie hat einen Sohn und eine Tochter und arbeitet als Journalistin und Autorin.

War Ihr Vulva-Buch auch Aufklärungsarbeit für Sie selbst?

Natürlich. Ich hatte ein erschreckendes Aha-Erlebnis: Ich saß mit einer Gruppe Wissenschaftlerinnen zusammen. Alle konnten einen Penis malen, doch keine eine überzeugende Vulva. Inzwischen kann ich das. Natürlich habe auch ich viel Zeit in meinem Leben damit verbracht, mit Spiegeln merkwürdigste unzugängliche Körperpartien zu untersuchen. Aber daraufhin, ob ich dort Zellulitis habe! Ich weiß, dass Männer ihre Penisse verglichen haben. Unter Mädchen gab es diese Form von Intimität nicht. Das Vergleichbarste war, dass sich meine Freundinnen gegenseitig die Haare färbten.

Sie schreiben, der "sprachgewaltige Phallus" beantworte klar und deutlich die Frage des Mannes nach seiner Identität. Was sagt denn der Phallus zu seinem Träger?

Im christlichen Abendland sagt der Phallus: "Eins" und "Ich". Der Gedanke ist: Der Mann kann Ich sagen, weil er einen Phallus hat. Die Frau hat zwei Lippen und das Chaos ihrer Genitalien. Sie weiß nicht, wie es aussieht. Sie weiß nicht, wie es heißt. Deshalb kann sie nicht Ich sagen.

Letztes Jahr hat die Rapperin Lady Bitch Ray in der "Harald Schmidt Show" Oliver Pocher ein Glas mit ihrem "Fotzensekret" überreicht. Sie proklamiert lauthals die "vaginale Selbstbestimmung". Sind wir nun dort angekommen, wo Sie hinwollen?

Ich freue mich über all diese Einwürfe. Ich muss die gar nicht im Einzelnen toll finden. Es heißt: Lady Bitch Ray, das ist doch platt. Aber das ist mir erst mal egal. Ich fand Bitch Ray erst mal entzückend. Ich freue mich, dass es die gibt. Ebenso Charlotte Roche. Es heißt, das sei billig, auf Skandal geschrieben. Aber ich fand das erfrischend. Ich erwarte von dem Buch nicht, dass es "Krieg und Frieden ist".

Die Pop-Kritikerin Kerstin Grether wirft Charlotte Roche vor, sie baue Schein-Tabus auf, nur um sie besonders medienwirksam zu brechen. Der Zwang zur Achselhaarrasur sei für den Feminismus kein satisfaktionsfähiger Gegner. Stimmen Sie Grether zu?

Nein. Ich fand die Hygiene-Thematik spannender als die Konzentration auf den Genitalbereich. Ich finde, das sind keine Schein-Tabus. Es gibt eine neue Körpernorm, die heißt Rasur. Wenn ich im Sommer meinen Sohn in den Kindergarten bringe, fragen mich andere Kinder: "Was hast du da unter den Armen?" Das haben die noch nie gesehen. Und wenn ich mir die Beine nicht rasiere, fühle ich mich, als hätte ich mir die Zähne nicht geputzt. Das gab es früher nicht. Und ich frage mich: Wieso kommt von außen plötzlich diese Norm? Da werden Produkte verkauft. Das ist eine neue Zielgruppe. Es gab gerade eine Studie, die zeigte, dass junge Frauen das meiste Kapital zur Verfügung haben.

Insgesamt denken Sie ziemlich kompliziert. Ist alles nicht viel einfacher: Dunkle, feuchte Höhlen sind ganz einfach unheimlicher als übersichtlich gen Himmel gereckte Pfähle.

Als Jugendliche fand ich diesen Pfahl auch ziemlich unheimlich. Vor allem die Frage: Was macht man damit? Er setzt einen unter Leistungsdruck. Und dann noch so ein Hoden! Zieht man an einer Seite, wirft er an der anderen Wellen. Ich dachte immer: Männer haben es einfacher. Die müssen nur anfassen.

Ihrer Forschungsarbeit liegt die Annahme zugrunde, die Vulva sei eine Tabu-Zone. Stimmt das denn heute noch nach mehreren Feminismus-Wellen, nach Madonna und Masturbations-Workshops?

Das Tabu ist so perfekt, dass man gar nicht merkt, dass man nicht darüber spricht. Auch ich habe nicht gemerkt, wo die weißen Flecken auf meiner intellektuellen Landkarte waren. Ich bin aufgewachsen mit der Doktrin: Wir sind alle so offen und so frei. Wir reden nur noch über Sexualität in jeder Talk-Show. Erstens stimmt das nicht. Und dann redet man nur über Sexualität, um ganz viel auszublenden.

Kann man nicht tolle Sachen mit etwas anstellen, über das man nicht offen spricht?

Ich bin Wissenschaftlerin und glaube, dass es ganz gut ist, Dinge zu wissen.

Ist Unwissen nicht manchmal erotischer als Wissen?

Ich glaube schon, dass die Viktorianer unglaublich begeistert von irgendwelchen Knöcheln sein konnten, weil sie noch keinen weiblichen Körper gesehen haben. Ich glaube aber, dass das für ein ausgefülltes Sexualleben nicht förderlich ist.

Brauchen wir nicht eigentlich mehr Tabus? Man kann doch froh sein, dass einem die Insassinnen des Dschungelcamps nicht auch noch ihre gebleckte Vulva entgegenstrecken.

De facto ist das doch alles verklemmt. Das, was man immer als die totale Offenheit in den Medien bezeichnet, ist nur eine Wiedergabe von Normen. Wenn ich etwas wie Tabus haben möchte, brauche ich so etwas wie "Dschungelcamp" und unsere Talkshows. Ich brauche etwas, das allen suggeriert: Ihr seid doch schon total offen. Meine Eltern haben immer erzählt, sie seien ganz offen und könnten über alles reden. Und haben sich dann mit demselben verschämten Kichern "Mainz wie es singt und lacht" angeguckt. Das war ein Ventil, um diese ganzen Erkenntnisschranken und Ängste ertragen zu können.

Sie haben einen fünfjährigen Sohn und eine neinjährige Tochter. Wie führen Sie die beiden an das Thema Sex heran?

Die wissen, was ein Penis und eine Vulva ist. Die benutzen beide Worte gerne und begeistert.

Und wie klären sie auf?

Wir haben ein tolles Pop-Up. Das Kamasutra. Sex auf Elefanten. Ganz entzückend.

Mithu M. Sanyal: "Vulva. Die Enthüllung des unsichtbaren Geschlechts", Wagenbach, 19,90 Euro

Interview: Stephan Maus

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