Bei einem Fußballspiel fangen die Reporter oft schon zehn Minuten vor dem Abpfiff mit ihrer Zusammenfassung an, ihren Bewertungen und langgezogenen Schlussbemerkungen. Wir haben einen überzeugenden Auftritt dieser oder jener Mannschaft gesehen, weil... Der überragende Akteur war ohne Zweifel dieser oder jener Kicker, weil... Obwohl die Kommentatoren überhaupt nicht wissen können, ob in der letzten Minute nicht doch noch ein entscheidendes Tor fällt, das all die klugen Analysen über den Haufen schießt. Die Taktik des Trainers mag brillant gewesen sein, aber sie hat eben nicht 90 Minuten funktioniert.
Hässliche Schauspieler stechen hervor
Auch für einen Filmkritiker spielt sich das Wichtigste meist innerhalb von 90 Minuten ab. Auch er würde gerne kurz vor dem Ende, am vorletzten Tag dieses riesigen Festivals schon mal mit gescheiten letzten Worten aufwarten, selbst wenn er den allerletzten Wettbewerbsfilm, das belgische Road-Movie "25 degrés en hiver" (25 Grad im Winter) noch gar nicht gesehen hat. Und kurz vor dem Abpfiff ist tatsächlich noch ein tolles Tor gefallen. Der britische Altmeister Ken Loach, mit seinem sozial engagierten Gegenwartskino seit vielen Jahren Stammgast auf Filmfestivals, erzählt in "Ae Fond Kiss" von einer verbotenen Liebe in Glasgow. Ein pakistanischer DJ und eine katholische Musiklehrerin stürzen sich in eine interkulturelle Romeo und Julia-Romanze, die frisch und kraftvoll große Begriffe wie Familie, Gesellschaft oder Religion mit neuem Leben erfüllt. Bärenwürdig, auf alle Fälle.
Aber vielleicht haben das die Schiedsrichter, die siebenköpfige Jury rund um die US-Schauspielerin Frances McDormand ("Fargo"), wieder mal anders gesehen. Bei den Journalisten stehen neben "Ae Fond Kiss" noch die anrührende Parisliebe "Before Sunset" mit Ethan Hawke und Julie Delpy und, zumindest bei den deutschen Vertretern, Fatih Akins deutsch-türkische Amour fou "Gegen die Wand" hoch im Kurs. Und natürlich "Monster" mit Charlize Theron als hässlicher, lesbischer Serienmörderin.
Apropos hässliche, körperlich verunstaltete Schauspieler. Was bei einem internationalen Filmreigen wie der Berlinale besonders ins Auge sticht: Jedes Kinoland, und sei es noch so exotisch, besitzt ausgezeichnete Charakterdarsteller. Schöne Gesichter, schöne Körper, die in ihren Rollen aufgehen und den Blick fesseln. Sei das nun ein kleiner schmutziger Film aus Brasilien, ein kroatischer Krimi oder ein chinesisches Frauenversteh-Drama.
Preisverleihung ist heute
In unserem normalen Kino-Programm gibt es diese Fremden leider nur selten zu sehen. Die Hollywoodstars, ja die kommen uns bekannt vor. Und gerade deshalb sind wir von einer verwandelten Charlize Theron, einem zum Indianer mutierten Tommy Lee Jones in "The Missing" weit mehr beeindruckt. Die Italienerin Michela Cescon hungerte sich für ihre Rolle in dem Wettbewerbsfilm "Primo Amore" bis auf die Knochen runter. Okay, gute Arbeit, ganz nett. Doch sobald Christian Bale ("American Psycho", "Laurel Canyon") ausgemergelt ins Bild tritt, sind wir überwältigt. Würde er Christiano Baleri heißen, würden wir wohl nur mit den Achseln zucken. Schon recht beeindruckend, aber vielleicht war der vorher schon recht dürr.
"The Machinist" nennt sich der in Spanien gedrehte Thriller, für den Bale fast 30 Kilo verloren hat. Eine visuelle und dramatische Geisterbahnfahrt, die bis zum überrraschenden Ende die Hochspannung hält. Bale ist Trevor Reznik, ein Maschinenschlosser, durch dessen Schuld ein Kollege seinen Arm verliert, der zunehmend von Wahnvorstellungen geplagt wird und nur bei seiner Lieblingshure (Jennifer Jason Leigh) menschliche Wärme findet. Es geht um wichtige Dinge wie Verdrängung, Tod und Freundschaft und Bale muss mehr als einmal wählen, ob er den Weg in der Erlösung oder in die Verdammnis einschlägt. Der fantastische Film lief aber nicht im Wettbewerb, sondern im Panorama. Vielleicht war er zu unterhaltsam?
Die Goldenen und Silbernen Bären gehen also heute an andere Filme. Wahrscheinlich hat man gerade die Gewinner verpasst wegen eines anderen Termins. Aber so läuft es ja oft auch beim Fußball. Fällt das entscheidende Tor, macht man sich bestimmt gerade die Schnürsenkel zu.
Matthias Schmidt