Eigentlich müsste man sie zum Beste-Freundinnen-Unter-Vier- Augen-Gespräch bitten, ihr fest in die Augen schauen und sagen: "Hör mal, der Typ ist nichts für Dich. Vergiss ihn einfach." Doch vergebene Liebesmüh, man hätte keine Chance mit den Worten irgendwie zu ihr durchzudringen. Denn sie ist der Typus Freundin, der auf Ratschläge bei einer Tasse Cappuccino pfeift und der, wenn sie es sich in den Kopf gesetzt hat, Erdbeersträucher in der Wüste anpflanzen würde. Die Rede ist von Jara (Netta Garti), Hauptfigur aus dem Drama "Liebesleben", das am 8. November in den Kinos anläuft.
Selbstbewusste Frau wird zur Playmobilfigur
Jaras Geschichte ist schnell erzählt: Sie schlittert aus ihrer heilen Alles-läuft-nach-Plan-Welt schnurstracks in eine amour fou nach Schema F: Junge Frau verguckt sich in wesentlich älteren Daddy-Typ - hier der Freund der Familie Arie (beeindruckend: Rade Sherbedgia) - und der entpuppt sich als rücksichtsloser Egoist. Weniger höfliche Menschen würden ihn auch als "Dreckskerl" bezeichnen. Das Leben langweilt ihn, Sex liebt er brutal und wenn er ihn haben will, dann bedient er sich bei Jara wie in einem Supermarkt. Die sonst selbstbewusste Jara lässt sich von ihm nach hier und da schieben wie eine Playmobilfigur, doch kann sie nicht vom ihm lassen und riskiert alles, was ihr bisher wichtig war: ihre Ehe, die Familie, das Studium. Für Literaturfreaks ist Jara bereits eine alte Bekannte, erschaffen 1997 von der israelischen Schriftstellerin Zeruya Shalev. Deren gleichnamiger Roman (in Deutschland im Jahr 2000 erschienen) avancierte ruckzuck zum Bestseller, der Autorin gelang der internationale Durchbruch, es regnete Preise und auch Marcel Reich-Ranicki ließ sich damals zu einem seltenen Lob hinreißen: "Dieser Roman gehört überhaupt zum Besten, was ich in den letzten Jahren gelesen habe." Eine steile Vorlage, keine Frage. Kann da, und hier sind wir mal wieder bei der Gretchenfrage angelangt, eine Verfilmung überhaupt noch punkten? Überhaupt: lässt sich Zeruya Shalevs Wörter-Taifun, ihre Satzkaskaden, die fulminante Ansammlung aus Assoziationen, Emotionen, Gedanken und Sinneseindrücken, die die Ich-Erzählerin auf die Leser loslässt, auf die Leinwand packen?
Maria Schraders Wagnis gelingt
Dass sich ausgerechnet eine Regiedebütantin an das anspruchsvolle Unternehmen heranwagte, nämlich die Schauspielerin Maria Schrader, klingt fast so gewagt, als hätte Angela Merkel verkündet, barfuß die Antarktis zu durchqueren. Doch: Während sich die Bundeskanzlerin mindestens abgefrorene Zehen einhandeln würde, übersteht Schrader ihre Expedition hinter die Kamera ohne eine einzige Blessur. Was sicher daran liegt, dass sie gut gepolstert war: Ihrem damaligen Lebensgefährten Dani Levy schaute sie bei fünf Filmen - unter anderem bei "Meschugge"- über die Schulter, war von Anfang bis Ende mit dabei und unterstützte ihn beim Dreh, wo sie nur konnte.
Doch so souverän, wie Maria Schrader die Sache angepackt hat, so groß war auch ihre Unsicherheit. "Ich hatte vor vielen Dingen Angst", sagt sie. Aber nicht vor dem Vergleich mit der literarischen Vorlage. "Es gibt immer die große Sorge, dass man mit der Verfilmung von Büchern die Fantasie der Leser manipuliert. Ich denke, wenn jemand den Film mit der Angst ansieht, dass die Bilder des Films seine eigenen zerstören könnten, dann sollte er wegbleiben." Sagt es und findet bei der Übersetzung von einem Medium in das andere den Mut, die Geschichte auf ihre eigene Weise zu erzählen: Das Drehbuch schrieb Maria Schrader zusammen mit Laila Stieler. Sicher, sie musste vieles weglassen, vieles ändern, aber ohne dass sich der Kenner der Bestseller-Vorlage betrogen fühlt.
Dreharbeiten zwischen Bombendrohungen und Zusammenbrüchen
"Liebesleben" entstand in 45 Drehtagen, sechs in Nordrhein-Westfalen, der Rest dort, wo der Roman auch spielt, in Israel. Bei den ersten Reisen nach Israel machte das Filmteam seine Flugtermine von den jeweiligen Zeitungsmeldungen abhängig. Gab es Attentate, wurden die Flüge verschoben, der Drehbeginn wurde immer weiter hinausgezögert. "Terrorismus wird nicht versichert. Wenn uns da eine Bombe ins Set gefallen wäre, wäre das das Ende von X Filme gewesen", erzählt Produzent Stefan Arndt. Trotzdem: Irgendwann warf man alle Bedenken über Bord, man hatte schließlich keine andere Wahl.
Doch die spontane und intuitive Regisseurin musste sich in ihrer Arbeit immer wieder zurücknehmen, wie Stefan Arndt sagt: "Eigentlich wollten wir möglichst viel in Jerusalem drehen, aber wir wurden dort immer wieder gedrängt, uns auf das Nötigste zu beschränken." So präsent die politische Lage für das deutsch-israelische Team vor Ort auch war, im Film - wie auch im Roman - spielt sie keine Rolle. Einzig in der Weigerung Jaras, keine Busse zu fahren, spiegelt sich die alltägliche Angst in Jerusalem wider- und auch die Angst der Schriftstellerin Zeruya Shalev, deren Knie bei einem Bombenattentat im Januar 2004 zerschossen wurde.
Tour de Force für die Filmcrew
Ein anderer Schock für die Filmcrew: Die Hauptdarstellerin brach am Set zusammen und musste für einen Tag ins Krankenhaus. Diagnose: chronische Übermüdung. Kein Wunder: Netta Garti stand während der Dreharbeiten als Ophelia in "Hamlet" auf der Bühne des Cameri Theaters in Tel Aviv. Und zwar jeden Abend bis Mitternacht. Morgens musste sie gegen 3.30 aufbrechen nach Jerusalem, Drehbeginn war um fünf Uhr. Eine wahre Tour de Force! Für den Film ist Netta Garti, die Maria Schrader zunächst für zu jung hielt, um die Rolle der Jara auszufüllen, ein echter Glücksgriff. Die Schauspielerin legt viel Kraft und Eindringlichkeit in ihre Rolle. Sie versteht es mit dem Zuschauer ohne Worte zu kommunizieren, indem sie die Emotionen in ihrem Gesicht präzise nuanciert. Eine Off-Stimme, die das reiche Innenleben der Protagonistin reflektiert wird dadurch unnötig.
In ihrem zielsicheren Gespür zwischen Wichtig und Unwichtig verzichtet Maria Schrader glücklicherweise darauf.
Die Regisseurin setzt auf klare und ausdrucksstarke Bilder, überrascht mit surrealen Momenten, und verlässt sich auf deren Erzählkraft, ohne sie mit einem Zuviel an Dialog zu beschweren. Kameramann Benedict Neuenfels, Jahrgang 1966, - auch hier glaubte Maria Schrader erstmal einen wesentlich älteren finden zu müssen -, findet Farben, Kameraeinstellungen und Lichtstimmungen, die ästhetisch sehr gelungen sind, aufeinander abgestimmt wie die Zeilen eines Gedichts, und dem Film eine frappierende Mischung aus Melancholie und Hoffnung verleihen.
"Du bist hungrig, ich satt"
In der Dramaturgie wird die Spannung fast kontinuierlich gehalten, es gibt kaum ein Durchschnaufen. Immer ist da eine gewisse Unruhe, die auch Jara umtreibt. Denn Jara ist auf der Suche, nicht nach Glück, sondern nach der Wahrheit, was, wie wir alle wissen, nur selten dasselbe ist. Ihr Geliebter Arie beschreibt ihr Immer-weiter-immer-voran in einer Schlüsselszene einmal so: "Du bist hungrig und ich bin satt."
Fatale Liebe
Jara ist kein Opfer, keine Masochistin und nur auf den ersten, oberflächlichen Blick ist ihr Verhalten möglicherweise ein Schlag ins Gesicht für alle Frauen, die sich Emanzipation auf ihre Fahnen geschrieben haben. Jara aber ergeht es nicht anders wie so vielen: Sie ist verliebt, und wer dieses Gefühl kennt, weiß wozu es einen bringen kann. Was falsch daran ist? Nichts, so lange man den Weg zu sich selbst wieder findet - womöglich gerade durch eine Erfahrung, die tiefer geht als je zuvor, so wie sie Jara durchlebt.
"Liebesleben" ist ein Muss in diesem Kinoherbst. Also: reingehen, genießen, was übers Leben lernen und im besten Fall über sich selbst. Auch solche, die eine Phobie haben vor Filmen, in denen man so nachdenklich drinsitzt wie in einem Gottesdienst, dürfen sich ruhig mal überwinden und die XXL-Packung Popcorn für den nächsten Hollywoodfilm aufheben. Denn der kommt bestimmt, während ein Kinoereignis wie "Liebesleben" so selten ist wie Britney Spears mit Slip. Liebe Maria Schrader, wir sind gespannt auf Ihre nächsten Filme.