Venedig-Chef Marco Müller hat dieses Ereignis sozusagen institutionalisiert. Die Filme, die dieses Jahr im Wettbewerb laufen, standen fest. Bis auf einen. Den "Film Sorpresa". Und so versammelte sich die Pressemeute um neun Uhr morgens in den engen Sitzreihen des ungemütlichen "Palagalileo"-Kinos und harrte gespannt der Dinge. Als dann das Logo eines japanischen Filmstudios erschien, war schnell klar, welchen Coup der Asien-Liebhaber Müller da gelandet hatte: Die Weltpremiere des neues Werks von Takeshi Kitano. In seinem Heimatland gilt Kitano als Superstar. Er moderiert eine durchgeknallte Fernsehshow, begeistert mit komödiantischen Einlagen und macht im Kino gerne auf eiskalter Yakuza. Der Schauspieler Kitano ist eine Art japanischer Bill Murray. Sein Gesicht bleibt meist reglos und erzählt doch die ganze Geschichte. Und wenn mal wieder besonders wild durch die Gegend geschossen wird, blinzelt er höchstens kurz mit einem Auge. Ein Kitano-Film ziert also jedes Festival, auch wenn er später im normalen Kinobetrieb kaum noch Zuschauer findet.
Kitanos "Überraschungsfilm" heißt "Takeshi’s" und ist seine Version von "Being John Malkovich". Er spielt sich selbst als umschwärmten Star, gibt aber gleichzeitig einen arbeitslosen Statisten, der später zum Pistolenheld mutiert, einen Clown, der nicht lustig sein will, einen Ladenbesitzer, der auch Taxi fährt. Oder so ähnlich. In dem wilden Hin und Her aus Realität und Traum verliert man irgendwann den Überblick und auch das Interesse. Kitano gelingen zwar immer wieder Bilder und Szenen, die man sich gerne als Poster übers Bett hängen möchte. Am Ende zitiert er sich nur noch selbst und ermüdet seine Fans.
Auch der andere asiatische Wettbewerbsfilm des Tages beeindruckte nur wegen seiner originellen Bildsprache. "Sympathy for Lady Vengeance" stammt vom Koreaner Park Chan-wook, der spätestens seit seiner Rache-Tour-de-Force "Old Boy" auch Quentin Tarantino zu seinen Fans zählen darf. Um Rache geht es auch in dieser Geschichte: einer zu Unrecht wegen Kindermordes eingesperrten Frau. Dreizehn verlorene Jahre - genug Zeit für einen ausgeklügelten Vergeltungsplan, der sich aber leider in teils unerträglichen Blutbädern manifestiert und einen ziemlich angewidert zurücklässt.
Ähnlich enttäuschend ist auch der neue Film von Isabel Coixet, wie schon in ihrem berührenden Sterbedrama "Mein Leben ohne mich" mit der Kanadierin Sarah Polley in der Hauptrolle. "The Secret Life of Words" handelt von einer verstörten Krankenschwester, die auf einer Bohrinsel einen Mann (Tim Robbins) mit schweren Brandwunden versorgt. Wem das schon recht konstruiert klingt - später kommen noch die Gräueltaten des Jugoslawienkriegs und eine Liebesgeschichte dazu. Prätentiöses Betroffenheitskino, das aus den falschen Gründen zum Heulen ist.
Dann lieber "Drawing Restraint 9" - kein Spielfilm, sondern ein Kunstwerk des Amerikaners Matthew Barney. Bekannt durch seine fünf "Cremaster"-Stücke, hat Barney nun zum ersten Mal mit Björk, seiner Freundin, zusammengearbeitet. Über die verschrobene Popmusik der Isländerin kann man leicht geteilter Meinung sein. Wenn sie aber mit Hörnchenfrisur, lachsfarbenem Plisee-Kleid und Glitzer-Handtäschchen auf der Bühne der Pressekonferenz thront, ist der ganze Raum verzaubert. "Ich mag Antonioni, Louis Malle und komischerweise viele Filme aus den 60er Jahren", gluckste sie in einem putzigen Akzent. Nach den anstrengenden Erfahrungen in Lars von Triers Musical "Dancer in the Dark" hatte Björk eigentlich verkündet, nie mehr in einem Film aufzutreten. "Als ich Matthew vor fünf Jahren kennenlernte, haben wir geschworen nie zusammen zu arbeiten. Doch irgendwann war es leichter, etwas zusammen zu machen, als es zu lassen. Es fühlte sich so natürlich an".
Um natürliche Prozesse dreht sich auch "Drawing Restraint". Wer zweieinhalb Stunden durchhält, bekommt eine Art Walgeburt zu sehen, einen Liebesakt mit Schlachtermessern und anderen seltsamen Zeremonien. Und Björk steigt nackt in eine Badewanne, in der Orangen schwimmen. Davon würden wir uns auch um acht Uhr morgens überraschen lassen.
Matthias Schmidt