M. Beisenherz: Sorry, ich bin privat hier Ich richte, also bin ich – über den Boulevard, den Tod und toxische Netzwerke

Von Micky Beisenherz
Es ist das Zeitalter der Übergriffigkeit. Wo Anmaßung mit Kollektivpädagogik verwechselt wird. Geschrei mit Zurechtweisung.
Es ist das Zeitalter der Übergriffigkeit. Wo Anmaßung mit Kollektivpädagogik verwechselt wird. Geschrei mit Zurechtweisung.
© Kirsty O'connor / DPA
Trennungen von Paaren verlaufen oft schmerzhaft. Tragen Prominente sie öffentlich in den Boulevardmedien aus, wird es oft schmutzig – und brutal, wenn der Fäkaljournalismus zum Katalysator für die Hasswelle in den sozialen Medien wird.

"Ihr habt mir mein Kind genommen." Was für ein unglaublich trauriger Satz. Gepostet von der Frau, deren Tochter sich vor wenigen Tagen das Leben genommen hat. Mutmaßlich. So wie in dieser bedrückenden Geschichte Mut- und Anmaßung durchweg wie böse Zwillinge Hand in Hand gingen. "Ihr habt mir mein Kind genommen" – eine Anklage an eine amorphe Täterschar. Ein bitterer Epilog auf Instagram. Dem Ort, wo alles begann.

Was war geschehen?

Im Grunde genommen nichts Ungewöhnliches. Zwei junge Leute haben sich verliebt, waren glücklich, dann unglücklich, schließlich haben sie sich getrennt. Nichts, was nicht jeder zwischen Altbauwohnung und Doppelhaushälfte aus dem persönlichen Umfeld kennt. Das große Unglück beginnt damit, dass die Hauptfiguren in dieser Tragödie es gewohnt waren, ihr Intimstes mit der Öffentlichkeit zu teilen. Das Schöne. Und das Schäbige.

Es wird sich gewehrt und zurück gewehrt

Trennungen sind selten schön und oft eine Aneinanderreihung gegenseitiger Verletzungen. Bei Privatpersonen ist der Beschädigungsspielraum naturgemäß begrenzt. Da, wo der öffentliche Raum stets als Rückkoppelung mit dem Ich genutzt wurde, gedeiht der fatale Gedanke, das Ansehen des Verletzers zu beschädigen. Während dieser wiederum glaubt, das eigene Image dadurch korrigieren zu können, indem er seinerseits zurück diskreditiert. Ein blindes Tasten nach scharfen Gegenständen. Die der Boulevard nur zu gerne reicht. Offenherzig bieten zahllose Boulevardmedien Plattformen, um als falsche Freunde Sprachrohr zu sein und Beichten abzunehmen, die man bei klarem Verstand niemals laut sagen würde. Aber wer verletzt ist, sieht nicht klar. Wer verletzt ist, will verletzten. Es wird sich gewehrt und zurück gewehrt – und das alles coram publico.

Boulevard ist Treibsand. Du sinkst immer tiefer, je heftiger du trittst.

Und so geraten die Hauptakteure in eine Art Schauprozess. Es werden Aussagen aufgenommen, Zeugen angehört, Schlussplädoyers gehalten, die dann doch mit jedem Tag wieder und wieder um ein neues Zitat angereichert werden. Bis sich alle bombenfest in ihre neue Rolle hineingeschraubt haben.

Boulevardmedien waren immer schon gleichermaßen instinktsicher wie charakterlos. Haben sich delektiert an gekränkten Eitelkeiten, Geltungssucht und Zügellosigkeit. Und den Beschädigten eingeflüstert, hier könnten sie den entscheidenden Schritt tun, die Dinge wieder zu richten.

Wie die Schlange bei der Vertreibung aus dem Paradies. Und als strafender Gott kommen plötzlich wir alle dazu.

In den sozialen Medien werden Urteile gefällt

"Klatsch" hat man früher hingenommen, vielleicht mit dem Kopf geschüttelt, mit den Augen gerollt. Ja, vermutlich war man emotionalisiert und parteiisch. In dem Stück sind die Rollen schnell klar.

Da ist der Gute. Da ist die Böse. Oder umgekehrt. Je nach Bedarfslage. Das Narrativ steht fest.

Das war es aber auch.

Nun aber ergeht im Namen des Volkes stets ein Urteil. Ein vernichtendes.

Der Fall schwappt von den Medien in die sozialen Netzwerke und wieder zurück und so weiter und so schlimm.

Wer hier mit dem Finger anklagend auf bestimmte Medien zeigt, macht es sich hier zu einfach.

Micky Beisenherz: Sorry, ich bin privat hier

Mein Name ist Micky Beisenherz. In Castrop-Rauxel bin ich Weltstar. Woanders muss ich alles selbst bezahlen. Ich bin ein multimedialer (Ein-)gemischtwarenladen. Autor (Extra3, Dschungelcamp), Moderator (ZDF, NDR, ProSieben, ntv), Podcast-Host ("Apokalypse und Filterkaffee"), Gelegenheitskarikaturist. Es gibt Dinge, die mir auffallen. Mich teilweise sogar aufregen. Und da ständig die Impulskontrolle klemmt, müssen sie wohl raus. Mein religiöses Symbol ist das Fadenkreuz. Die Rasierklinge ist mein Dancefloor. Und soeben juckt es wieder in den Füßen.

Die Yellow Press, so widerlich ihre Methoden auch sein mögen (und das sind sie) ist lediglich der Infektionstreiber. Hier holt man es sich und trägt es zu Hunderttausenden in die Kommentarspalten, um mit eifriger Hybris in einem pseudomoralischen Superspreading-Event zu münden, der solange wütet, bis am Ende nichts mehr übrigbleibt.

Ja, früher hatten die Blätter allein die Macht, Menschen zu zerstören. Heute, da gerade für jüngere Menschen Instagram das präferierte Informationsmedium ist, die tägliche, stündliche, ja, minütliche Beurteilung von außen essenziell ist, kommt dem Fäkaljournalismus nunmehr eine Katalysatorenrolle zu. Er kann den Anstoß geben, das Framing gestalten – doch sich zum Teil der entfesselten Masse zu machen, die im Kollektiv auf Einzelpersonen losgeht, sie mit Beleidigungen, Hass und Todeswünschen überzieht, das liegt in der Verantwortung jedes Einzelnen. Was muss man fühlen, wenn man morgens wach wird und erkennen muss, Teil dieser Aburteilungsorgie gewesen zu sein, die im Tod einer Person geendet hat.

Jeder glaubt, die eigene Kritik sei gerechtfertigt

Die ernüchternde Erkenntnis: Vermutlich nichts. Denn jeder und jede glaubt ja stets, die eigene "Kritik" sei gerechtfertigt gewesen. Und nicht selten sind es dieselben Figuren, die zwei Tage später in einem Anfall moralischer Amnesie unter dem Hashtag #Depression zu mehr seelischer Hygiene und #Achtsamkeit aufrufen. Vielleicht ein kurzer Moment ausgestellter Demut. Dann trendet der nächste Name. Es widert alles nur noch an.

Wir können nicht mit Social Media. Aber auch nicht ohne. Obwohl wir spüren, dass es uns nicht guttut. Alle Anzeichen einer toxischen Beziehung.

Möglicherweise liegt es an der Pandemie, die uns alle heillos überreizt und aggressiv macht. Während uns der Mangel an Ablenkung zu egozentrischen Irren macht und fehlende echte Interaktion ein Gefühl dafür nimmt, Emotion im Gesicht des Gegenübers zu lesen. Vielleicht ist es die Machtlosigkeit der Bürger*innen in sich stetig verlängernden Beschränkungsperspektiven, die sie dazu bringt, nur noch im Kollektiv ein Gefühl von Selbstwirksamkeit, ja, Macht zu empfinden, wenn sie große Accounts "abschießen" oder Existenzen (hinter denen sich mutmaßlich keine echte Person verbirgt) vernichten. Der Mensch als Teil eines digitalen Sardinenschwarms, der die großen Fische ... tja, was? Es ist ein Exzess, der längst zum Volkssport verkommen ist.

Tiktok: Junge Frau zeigt ihren Körper nach schwerem Corona-Verlauf – und erntet fiesen Shitstorm
Tiktok: Junge Frau zeigt ihren Körper nach schwerem Corona-Verlauf – und erntet fiesen Shitstorm.
© Bitprojects
Junge Frau zeigt ihren Körper nach schwerem Corona-Verlauf – und erntet fiesen Shitstorm

Ich richte, also bin ich. 

Und es bleibt die Frage an alle, die es angeht:

Hat dieser eine negative Kommentar Dein Leben in irgendeiner Weise besser gemacht? Oder reicht das Bewusstsein, dass die getippte Verletzung das Leben der Zielperson bedeutend schlechter gemacht hat?

Leidenschaft ist aber kein Ersatz für Wissen. Und Emotion ersetzt keine Sachkenntnis. Was geht es uns an?

Warum nur versagt wieder und wieder so dramatisch die Impulskontrolle.

"kann weg." 

"die ist Abfall."

"geh sterben."

Wir wissen nichts über das Leben, die gescheiterte Liebe dieser zwei Menschen, und doch maßen wir uns an, uns einmischen zu dürfen. Zu urteilen. Den Schuldspruch ergehen zu lassen.

Lebenslang hat nun die Mutter der toten Frau.

Hätte sie nur drei Tage länger durchgehalten

Der man gewünscht hätte, dass es in der analogen Welt genügend Gegengewicht gegeben hätte, um zu begreifen, dass Hasswogen in ihrer Substanzlosigkeit so schnell wieder abebben, wie sie gekommen sind. Hätte ihr nicht jemand sagen können "wir fahren in den Schwarzwald, mach das Handy aus, in drei Tagen haben die Piranhas irgendwen anders zum Abnagen"?

Dass das im Negativen alles so bedeutungslos ist wie im Positiven auch.

Hätte sie doch einfach nur drei Tage länger durchgehalten.

Doch da, wo es normal geworden ist, das Privateste in die Öffentlichkeit zu tragen, ist die Tür wohl so weit offen, dass es am Kipppunkt nicht mehr möglich zu sein scheint, das Einfallstor zu schließen, bevor einen diese Schlammlawine aus Feindseligkeit begräbt.

Es ist das Zeitalter der Übergriffigkeit. Wo Anmaßung mit Kollektivpädagogik verwechselt wird. Geschrei mit Zurechtweisung.

Schwarminkontinenz.

Vielleicht ist das nur der Auftakt zum asozialsten Jahrzehnt unserer Generation. 

Verantwortung tragen wir alle. Die User. Die Medien. Und Komiker, die ihr Unterhaltungsangebot so erschreckend niedrigschwellig ansetzen, dass die Grenze zwischen Humor und Mobbing nicht mehr erkennbar ist.

Wir haben oft und gerne über Angela Merkels Zitat gelacht, das Internet sei "Neuland". Je länger ich beobachte, wie unangeschnallt und wenig imprägniert Menschen mit den toxischen Netzwerken umgehen, desto klarer wird mir:

Sie hat vollkommen recht.

Wir haben die Bildschirme.

Aber wo ist die Kontrolle?

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