Es gibt nur wenige Dinge, auf die man sich in unsicheren Zeiten, in denen nichts mehr zu gelten scheint, absolut verlassen kann: die Instabilität der italienischen Regierung. Und Leute, die über verschneite Gegenden fliegen wie einst der Junge aus "E.T." mit seinem BMX-Rad.
Eine unglaubliche Zahl von Menschen versammelt sich regelmäßig zu Beginn des Jahres vor dem Fernseher, um jungen Sportlern dabei zuzusehen, wie sie sich auf Skiern von einer Schanze ins Tal hinabstürzen. Einerseits ist das in Zeiten des Infektionsschutzes sicherlich eine ganz vernünftige Angelegenheit; dort oben in der Luft hat man für gewöhnlich doch recht wenig Kontakt zu anderen Menschen. Obendrein trifft man keine Ordnungsbeamten, die einem ein Ticket ausstellen, weil man beim Rodeln mit den Schlüters von nebenan die FFP2-Maske nicht anständig über Mundnase gezogen hat. Andererseits: Wenn man mit 90 km/h aus 100 Meter Höhe auf den Boden knallt, ist die persönliche Virenlast wohl das geringste Problem.
Einmal hatte ich die Gelegenheit, als Reporter am Absprungpunkt zu stehen und mir die Schanze genauer anzusehen. Seither frage ich mich: Wie muss man wohl beschaffen sein, um zu sagen: "Jawoll, ich rase da jetzt runter!"? Ich würde mich nicht als ängstlichen Menschen beschreiben, aber ich habe eine große Zuneigung zu körperlicher Unversehrtheit.
Schon Anfang der 2000er wurde mir klar, dass ich nicht (mehr) zum hedonistischen Hasardeur tauge. Wir waren zum Surfen in Lagos, Portugal. Jung, braun gebrannt, langhaarig (in meinem Falle: Platz vier beim Castrop-Rauxeler Patrick-Swayze- Ähnlichkeitswettbewerb). In dieser Gegend sind die Wogen recht hoch, und so saßen wir mit unseren Brettern auf dem Wellenkamm und warteten auf den perfekten Moment, das türkisblaue Wasser hinabzugleiten. Was sie links und rechts von mir dann auch irgendwann taten. Nur ich zog es vor, oben auf dem Board zu verharren, während alle kopfüber in die Fluten bretterten, und hatte Bedenken. Die Aussicht auf ein paar binnenatlantisch-freudvolle Momente konnte nicht die Furcht überlagern, sich beim Sturz das Bein an einem Riff aufzuschlitzen oder sich von jemand anderem mit dem Brett vor den Kopf semmeln zu lassen (was mir an anderer Stelle noch passieren sollte und heute vieles erklären dürfte).
Ich würde nicht einmal auf ein Skateboard steigen
Micky Beisenherz: Sorry, ich bin privat hier
Mein Name ist Micky Beisenherz. In Castrop-Rauxel bin ich Weltstar. Woanders muss ich alles selbst bezahlen. Ich bin ein multimedialer (Ein-)gemischtwarenladen. Autor (Extra3, Dschungelcamp), Moderator (ZDF, NDR, ProSieben, ntv), Podcast-Host ("Apokalypse und Filterkaffee"), Gelegenheitskarikaturist. Es gibt Dinge, die mir auffallen. Mich teilweise sogar aufregen. Und da ständig die Impulskontrolle klemmt, müssen sie wohl raus. Mein religiöses Symbol ist das Fadenkreuz. Die Rasierklinge ist mein Dancefloor. Und soeben juckt es wieder in den Füßen.
Vielleicht lag es schlichtweg daran, dass ich schon zu viel zu verlieren hatte. Jahre zuvor noch haben mein Cousin und ich uns an einem alten Ford Fiesta hängend auf Rollerblades mit 80 km/h über Hauptverkehrsstraßen ziehen lassen. Heute würde ich nicht einmal auf ein Skateboard steigen. Zum einen, weil es speziell bei mir ausgesprochen lächerlich aussähe, wenn ein Silver Surfer wie ich ungelenk auf einem Rollbrett vor sich hin boomert. Zum anderen, weil ich mir zielsicher alles bräche, was ich zumindest noch zum Fußballspielen gebrauchen könnte.
Ein Sport, den nur erfolgreich gestalten kann, wer sich entgegen der inneren Alarmsignale lustvoll der Gefahr zuneigt? Nichts für mich. Den Impuls zum Wagnis braucht man schließlich zu anderen Gelegenheiten so viel dringender.
Mit Mitte 40 kann ich sagen: Das Leben ist gottlob keine Piste. Trotzdem muss man sich immer wieder hineinstürzen. Im Vergleich zu Sport war ich in Herzensangelegenheiten stets bedeutend mutiger. Was nicht heißt, dass es nicht den einen oder anderen Aufprall gegeben hätte. Skifliegen und Schiefliegen – sind nicht nur phonetisch nah beieinander. Doch bislang scheinen alle Brüche gut verheilt.