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M. Beisenherz: Sorry, ich bin privat hier Wundertüten

Micky Beisenherz
© Illustration: Dieter Braun/stern
Wir feiern die Einschulung unseres Kindes, als wäre es zur Raketenpilotin ernannt worden. Wollen wir hinter all dem Konfetti die nahenden Härten verbergen?
Von Micky Beisenherz

Da stehen sie. Frauen, Männer, junge, alte, weiß, schwarz, zu braun (ich) im Halbrund und applaudieren, geeint durch das Gefühl, einer kleinen Sensation beizuwohnen. Nun sind hier aber nicht gerade die Astronauten von der ISS zurückgekehrt, und es war nicht einmal die Keynote, bei der das neue vegane Carazza vorgestellt worden ist.

Was den Jubel ausgelöst hat, sind die Erstklässler, die nach erfolgreicher Absolvierung der ersten regulären Unterrichtsstunde die Stufen aus dem Schulgebäude hinab in Richtung der vor Erregung zitternden Verwandtschaft nahmen.

Für einen kleinen Menschen bildet die Einschulung einen elementaren Einschnitt im Leben. Sie ist der, wenn auch mit Süßigkeiten gepflasterte, Weg in die Leistungsgesellschaft.

Micky Beisenherz: Sorry, ich bin privat hier

Mein Name ist Micky Beisenherz. In Castrop-Rauxel bin ich Weltstar. Woanders muss ich alles selbst bezahlen. Ich bin ein multimedialer (Ein-)gemischtwarenladen. Autor (Extra3, Dschungelcamp), Moderator (ZDF, NDR, ProSieben, ntv), Podcast-Host ("Apokalypse und Filterkaffee"), Gelegenheitskarikaturist. Es gibt Dinge, die mir auffallen. Mich teilweise sogar aufregen. Und da ständig die Impulskontrolle klemmt, müssen sie wohl raus. Mein religiöses Symbol ist das Fadenkreuz. Die Rasierklinge ist mein Dancefloor. Und soeben juckt es wieder in den Füßen.

Und als wüssten die Eltern, in was für eine Bewertungsfabrik sie ihre kleinen Schätze schicken, bluffen sie. Ihr Schmiergeld ist die Schultüte, gefüllt mit kleinen Geschenken, oder: die Einschulungsparty. War Ihnen bekannt, dass es mittlerweile gängig ist, das erste Schuljahr des Kindes mit einer Party zu feiern, die man sich nicht einmal in der Chefetage des RBB getraut hätte?

Noch nix erreicht, aber schon abgefeiert werden. Das ist so ein Generationending, was?

Es ist nur schwer übersehbar, dass alles auf eine Luftpolstergesellschaft hinauszulaufen scheint, in der die Eltern panisch bestrebt sind, von ihren Liebsten jedwede Form von Kränkung oder Verletzung fernzuhalten. Da, wo wie beim Curling jede Holprigkeit aus der Bahn des Kindes geschrubbt wird, ist Helene-Fischer-eske Ekstase ob der Einschulung die logische Konsequenz.

Gewiss sind das aber nur bittere Zeilen, weil zu meiner frugalen Erstbesteigung der Schultreppen damals nur meine Mutter erschienen ist, die … Moment mal: War da überhaupt irgendein Vater anwesend? Könnte mich nicht erinnern.

Das, was heute gut, richtig und selbstverständlich ist, war 1983 eine exotisch anmutende Volte: Der Vater kommt mit, um dem i-Männchen das erste Geleit zu geben. Grotesk!

Mit etwas Pech erwarten das Kind unfähige und frustrierte Lehrer

Aus meiner Generation haben alle dasselbe gelbstichige Foto: Ringelsocken, komische Hosen und einen Pottschnitt, den man sich heute nur noch traut, wenn man als freche Feuilletonredakteurin beim Frühstücksfernsehen arbeitet. Daneben die Tafel, auf der noch einmal sehr deutlich alle Daten stehen, die den Eintritt in das trügerisch lockende System markieren. Heute steht da: 1a, 11.08.2022.

Das Kind lächelt stolz. Es weiß, dass es hier einen gewaltigen Schritt in die Erwachsenenwelt getan hat. Was es noch nicht weiß, ist, dass es in ein paar Jahren mit ein bisschen Pech unfähigen, frustrierten oder schlicht fehlenden Lehrern mit unzureichendem Material ausgesetzt sein wird. Entsetzlich vermitteltem Stoff, einer pausenlosen Dauerbewertung durch Lehrerinnen (schlimm) und Mitschülerinnen (viel schlimmer) und dem Pausenhoftribalismus, dem wir zeit unseres Lebens geistig nicht mehr entkommen.

Aber da Mädchen bekanntermaßen etwas weniger doof sind als Jungs, kommt es womöglich ganz anders, und sie geht da ganz lässig durch.

Und die Eltern?

Kaum nachdem der Jubel abgeklungen ist und sie ihr kostbares Kind im Lastenrad heimchauffiert haben, wird ihnen bewusst: Du kannst das schulpflichtige Gör jetzt nicht mehr einfach nach Belieben abgeben und abholen, nein: Jetzt musst du brav in den Ferienzeiten Urlaub nehmen. Wie all die anderen geneppten Trottel auch.

Herzlichen Glückwunsch.

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