Am Ende stirbt eben auch eine Hure als Mensch. Die Edelkurtisane Violetta Valéry schmeißt rauschende Feste für die Pariser Gesellschaft, liebt den Champagner und gibt sich den Kerlen hin. Sie führt ein Leben auf dem Opernvulkan. Angst bereitet ihr nur eines: die große, wahre und echte Liebe. Und die gibt der lungenkranken Lebedame am Ende tatsächlich den Todesstoß. Tragischer kann eine Oper nicht enden.
Einer der schönsten Kommentare zu Giuseppe Verdis "La Traviata" wurde in Hollywood erfunden. Richard Gere spielt den weltmännischen Geschäftsmann und lädt seine Freundin Julia Roberts als Prostituierte ins Theater. Vor lauter Ergriffenheit beginnt sie zu weinen. Er runzelt die Stirn unter dem grauen Haar, nimmt sie in den Arm und tröstet sie mit einer kulturellen Binsenweisheit. Wer bei dieser Oper nicht weint, sagt Gere, sei eben kein Mensch. Der Film "Pretty Woman" ist das moderne Remake der "Traviata": Lebedame trifft Lebensliebe. Doch während Hollywood das Epos mit einem Happy End beschließt, legt Verdi seine Violetta am Ende aufs Totenbett.
Vom ersten schluchzenden Akkord an lässt er hören, dass hier vieles schön, aber nichts gut wird. Violettas Leben ist eine gigantische Flucht. Der lustvolle Luxus lenkt sie von dem ab, was sie unter allen Umständen vermeiden will: ihren Gefühlen nachzugeben, der Sehnsucht, der Liebe der Hingabe.
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Die große Oper ist ein rasant erzähltes Kammerspiel. Violetta verliebt sich in Alfredo. Die beiden fliehen von der sündigen Stadt aufs idyllische Land. Alfredos Vater erfährt von der Liaison, bittet Violetta auf den Sohn zu verzichten - es geht schließlich um die Familienehre. Die verliebte Hure beschließt, der Spießbürgerlichkeit nicht länger im Wege zu stehen, und zieht es vor, auf den Pariser Bällen in den Tod zu tanzen. Alfredo erkennt die wahre Liebe natürlich zu spät, und der Tod trennt die beiden, bevor sie zueinander finden. Bevor Violetta sterben darf, zeigt sie noch einmal ihre wahre Größe: Sie reicht dem Geliebten ein Bild von sich und bittet ihn, eine andere Frau zu heiraten. Sie selbst würde aus dem Himmel für die beiden beten. Die letzte Lebenskraft steigt in ihr auf, sie will tanzen - und sinkt für immer zu Boden. Ende. Aus. Vorhang.
Es gibt nur wenige Sängerinnen, die in "La Traviata" keine rührselige Kitsch-Oper und eine Bühne zur Profilierung sehen, sondern die "Kameliendame" als vielschichtigen Charakter zeigen wollen: als zerrissene Frau, die ihre Angst vor der Enttäuschung für die wahre Liebe überwindet. "La Traviata" wird oft als "schöne Rolle" verstanden, als femme fragile, als zerbrechliches Weibsbild, das schuldlos an ihrer Liebe zu Grunde geht.
Stimme der Wahrhaftigkeit
Nicht so bei Angela Gheorghiu. Sie sieht in der Oper ebenfalls den Lebenskampf einer starken Frau. Kaum ein Sopran ist technisch so versiert wie sie, keiner so dramatisch existenziell und gleichsam so feinfühlig emotionsgeladen. Kaum eine andere Sängerin begreift die Oper heute noch als das, was Gheorghiu immer wieder aus ihr macht: als Überhöhung einer allgemeingültigen Wirklichkeit. Als Welt in der das Pathos lediglich die Steigerungsform des menschlichen Daseins bedeutet. Als Stimme der Wahrhaftigkeit.
Gemeinsam mit Ramón Vargas (Alfredo) und Roberto Frontali (Giorgio) inszeniert Gheorghiu ein musikalisches Psychodrama dreier Seelen, die in ihrem Wunsch alles richtig zu machen an der Kategorie Mensch scheitern. Lorin Maazel unterstützt dieses Psychodrama am Pult des Orchesters der Mailänder Scala. Und die Regisseurin Liliana Cavani taucht den operalen Seelen-Showdown in opulente Bilder, rauschende Ballszenen und romantische Liebesidylle. Doch am Ende feiert sie dann eben doch den stillen, leisen und innerlich verzweifelten Tod in absoluter Dunkelheit. Der Vulkan Violetta Valérie erlischt - im Tod wird die Hure endgültig zum Menschen.