Der Ausflug nach Turin war für die Mitglieder der Band Kalush Orchestra nur eine kurze Auszeit von einem Alltag, der von Krieg bestimmt wird. Beim Eurovision Song Contest in der italienischen Stadt räumte die Gruppe aus der Ukraine mit großem Vorsprung den Sieg ab. Es war der dritte Erfolg für die Ukraine beim ESC nach 2004 und 2016. Doch statt den Sieg gebührend zu feiern und sich im Scheinwerferlicht der Öffentlichkeit zu sonnen, geht es für die Band sofort wieder zurück in den Krieg.
Frontmann Oleh Psiuk verabschiedete sich am Tag nach dem ESC-Finale von seiner Freundin und kehrte in die Ukraine zurück, ebenso wie die anderen Bandmitglieder. Männer im wehrfähigen Alter, also zwischen 18 und 60 Jahren, dürfen das Land nicht verlassen. Für die Teilnahme am ESC erhielt die Band eine Sondergenehmigung.
Sänger Oleh Psiuk unterstützt Geflüchtete
Der 27 Jahre alte Psiuk wurde bislang noch nicht zum Kriegsdienst einberufen. Er ist Teil einer Freiwilligen-Organisation, die Transporte, Unterkünfte und Medizin für Geflüchtete organisiert. Dennoch sind auch für ihn und sein Umfeld die Kämpfe in seinem Land Alltag, seit Russland die Ukraine angegriffen hat. "Ein anderes Bandmitglied kämpft noch immer an der Front. Und meine Freundin hat Molotow-Cocktails hergestellt, sehr viele", erzählte Psiuk vor dem ESC im stern-Interview. Er würde auch selbst zu den Waffen greifen: "Ich bin bereit zu kämpfen – bis zum Ende!"

"Wenn Du jeden Tag aufwachst und Explosionen hörst, wenn Du nie weißt, welche deiner Freunde und Verwandten noch am Leben sind, bedeutet das eine ständige Anspannung und Stress", so der Rapper, der das Siegerlied "Stefania" über seine Mutter geschrieben und damit die Herzen in ganz Europa bewegt hat. Noch nie zuvor hat beim Grand Prix ein Lied vom Publikum so oft die Höchstwertung bekommen.
Am Ende des ESC-Beitrags rief Psiuk die internationale Gemeinschaft zur Hilfe für die Ukraine und insbesondere für die von russischen Truppen belagerte Stadt Mariupol auf: "Ich bitte Euch alle: Helft der Ukraine, Mariupol, Azovstal." Obwohl politische Statements bei der Veranstaltung eigentlich untersagt sind, zeigten auch viele andere Künstler:innen ihre Solidarität mit der Ukraine.
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Ukraine will im nächsten Jahr den ESC ausrichten
Ihren Sieg will die Band erst feiern, wenn der Krieg ein Ende hat. "Wir werden vielleicht nach dem Krieg eine große Feier haben, denn der Sieg ist großartig, den ESC zu gewinnen ist fantastisch, aber es passiert gerade so viel", sagte Psjuk am Sonntagabend bei einer Online-Pressekonferenz. "Ich meine, Menschen, die man kennt, werden in diesem Krieg getötet oder kämpfen darin oder verlieren ihre Jobs in der Ukraine."
Traditionell darf das Siegerland im Folgejahr den Eurovision Song Contest ausrichten. Ob das 2023 in der Ukraine möglich sein wird, ist noch völlig unklar. Präsident Wolodymyr Selenskyj kündigte allerdings an, dass sein Land im nächsten Jahr Gastgeber sein wolle. "Im nächsten Jahr empfängt die Ukraine den Eurovision! Zum dritten Mal in unserer Geschichte", kündigte er an – und brachte als Austragungsort die größtenteils zerstörte Stadt Mariupol ins Gespräch.
Quellen: "Bild" / Wolodymyr Selenskyj auf Instagram