Zuschauernähe ist für den NDR keine Floskel. Das sieht man sofort, wenn man einmal zu Besuch ist bei der drittgrößten Anstalt der ARD, draußen in Hamburg-Lokstedt, gegenüber vom Tierpark Hagenbeck. Auf dem Nachbargrundstück, gleich neben der Schranke und dem Pförtnerhäuschen, steht ein Seniorenheim - so dicht ist sonst kein Sender an seiner Zielgruppe dran. Das ist, als sendete Super RTL aus dem Hof eines Kindergartens. Oder Neun Live aus der Bundesagentur für Arbeit. Man kann es sich gut vorstellen, wie die NDR-Redakteure in ihren Büros bei offenem Fenster die Freudenschreie der fernsehenden alten Menschen vernehmen - die ihnen täglich aufs Neue verkünden: Ihr da vom Norddeutschen Rundfunk, ihr habt wieder alles richtig gemacht! Euer Programm ist so herrlich altbacken, es ist eine Freude!
Statt sich damit zufrieden zu geben, arbeiten die Lokstedter Fernsehmacher weiter an ihrer Volkstümlichkeit. Die beiden Chefredakteure von ARD aktuell, also die Chefs der in Lokstedt produzierten "Tagesschau", haben jetzt angefangen zu bloggen. Heißt: Dr. Kai Gniffke und Thomas Hinrichs schreiben, gleich einem zur guten Nacht betenden Kind, allabendlich ins Internet, was sie am Tag bewegt hat. Nach der 20-Uhr-"Tagesschau" erklären sie uns so, warum die Sendung war, wie sie war.
"Darf man Hinrichtungen zeigen?", fragte Gniffke im Premierenblog am 2. Januar anlässlich der Bilder vom Ende des Saddam Hussein - und antwortete sich selbst: Man habe in der Konferenz "intensiv diskutiert" und beschlossen, das Umlegen der Schlinge zu zeigen. "Keinesfalls aber", erklärte Gniffke, "wären wir weitergegangen. Darüber herrscht auch heute bei ARD-aktuell Konsens: Die Würde des Menschen ist unantastbar".
Am 3. Januar, da war die Leiche des sechs Tage lang vermisste Felix von Quistorp gefunden worden, fragte Hinrichs: "Gehört der tragische Tod eines 14-jährigen Jungen in die 'Tagesschau'?" - und kam zum Schluss: "Es gibt keine überregionale Bedeutung, keine gesellschaftspolitische Relevanz" - also: nein. Doch gehöre der Familie von Quistorp das Mitgefühl seines Teams.
m Dienst der Gebührenzahler ackernde Handwerker
Gniffke & Hinrichs verschaffen uns im Dialog mit sich selbst eine Ahnung vom täglichen Ringen der "Tagesschau"-Redakteure mit ihrem Gewissen. Von deren Ethos. Vom harten Umgang mit sich selbst. Dem Blog entströmt der Schweißgeruch des im Dienst der Gebührenzahler ackernden Handwerkers. Er bestärkt uns in unserer Entscheidung, dieser Sendung unser Vertrauen zu schenken. Er ist ein Blick hinter die Bühne des Nachrichtenmachens. Ein Besuch in der Werkstatt des Weltgeschehens. Das Sich-Herabbegeben der ehrwürdigen "Tagesschau" in die Niederungen des demokratischen Mediums Internet nimmt dieser nichts von ihrer Erhabenheit - es macht sie menschlicher und damit größer. Die Haltung bleibt gewahrt.
Die "Tagesschau" erklärt die Welt, Gniffke & Hinrichs erklären die "Tagesschau" - jedem, der sich auch im Jahr 2007 noch wundert, dass auf unserm Planeten täglich exakt so viel passiert, wie in eine abendliche Viertelstunde reinpasst. Die beiden Blogger bändigen den Tiger, der da heißt: Ehrfurcht des Zuschauers vor dem Medium. Gniffke & Hinrichs sind die Siegfried und Roys von Hamburg-Lokstedt.