"Die Auserwählten" über die Odenwaldschule Missbrauch zur besten Sendezeit

Kann man einen Film über den Missbrauchskandal an der Odenwaldschule machen? Die ARD hat es mit "Die Auserwählten" versucht. Ulrich Tukur ist gewohnt gut, doch einigen Opfern geht der Film zu nah.

Ein Monster. So könnte die Standard-Antwort des Schauspielers Ulrich Tukur lauten auf die Frage, was er zuletzt gespielt habe. Tukur hat sich gut eingerichtet in der Nische der monströsen Figuren: Er gab den Baron in "Das weiße Band", den Nazi-Wüstenfuchs "Rommel", bald spielt er den Führer der Sekte "Colonia Dignidad" - und jetzt sehen wir ihn als Leiter der Odenwaldschule.

Im Film trägt dieser Leiter den Namen Simon Pistorius, in Wirklichkeit hieß er Gerold Becker und war eines der größten Schweine der deutschen Schulgeschichte. Becker hat über viele Jahre zahlreiche Schüler sexuell missbraucht, einen Jungen sogar bis zu 400 Mal. Er trat auf als Charismatiker, Menschenfischer, Reformator, dem es aber offenbar nicht um das Wohl der Kinder ging, sondern nur um die Befriedigung seines eigenen dunklen Triebs.

Und so spielt ihn Ulrich Tukur in dem Film "Die Auserwählten": Er stellt Pistorius (latinisiert aus Becker) als einen Sonnenschein-Menschen dar, der andere blendet mit seiner Zugewandtheit, Freundlichkeit, Leutseligkeit - und am schlimmsten: mit seiner scheinbaren Barmherzigkeit. Er tut so, als biete er auch schwachen Kindern einen Unterschlupf. Doch dieser entpuppt sich als Hölle, in der die Betroffenen bald alle Hoffnung fahren lassen.

Der Film spart explizite Szenen aus

Tukur aber spielt das Monster mit einem Lächeln. Die Zuschauer sollen wohl verstehen, warum so viele Erwachsene, unter ihnen die Elite der Republik, auf ihn hereingefallen sind. Diese offenen Arme - es ist schwer, ihnen zu widerstehen. Für einige der Schüler aber werden seine Arme zu Tentakeln, die sie umschlingen, unten in der Gemeinschaftsdusche, wo Pistorius sich wiederholt an dem Jungen Frank vergreift (Leon Seidel, bekannt geworden als Huckleberry Finn). Die explizite Darstellung des Missbrauchs selbst wird im Film ausgespart. Wir sehen lediglich Pistorius im Bademantel, Schnitt, dann den verzweifelten Jungen, nackt kauernd unter dem Duschstrahl.

Ulrich Tukur erzählt in Interviews, wie entsetzlich er diesen Pistorius finde, wie zögerlich er gewesen sei, bevor er die Rolle angenommen hat. Und dann sagt er den Satz, den Schauspieler abrufen, um zu rechtfertigen, dass sie zum Monster geworden sind: Er habe in die Tiefe des Menschen hinabsteigen wollen, in die dunklen Schichten der Seele. Bruno Ganz hat so auch seinen Hitler in "Der Untergang" begründet. Schauspieler und Monster: Man ist unter sich. Charismatiker und Menschenfischer, wie gesagt.

Ulrich Tukur macht das gut. Jovial, abgründig, brutal - die gesamte Klaviatur. Man kann das toll finden: Vielleicht wird Tukurs Leistung sogar mit einem Film- oder Fernsehpreis belohnt. Oder man kann auf den Gedanken kommen, einen Blutegel zu beobachten. Einen, der den Stoff aussaugt.

Früherer Odenwald-Schüler fühlt sich "benutzt"

Der ehemalige Odenwald-Schüler Andreas Huckele fühlte sich abgestoßen von "Die Auserwählten". Im stern schilderte er vergangene Woche die Gefühle, die ihn überkamen, als er den Film sah. Er fühlte sich ein zweites Mal beschädigt, "benutzt und ausgebeutet", wie er in dem Magazin schrieb. Er hat einen Anwalt eingeschaltet. Der Film ging ihm zu nah.

Das macht die ambivalente Wirkung eines Künstlers aus: Er kann durch seine Kunst begeistern. Oder verletzen. Diese Gefahr besteht, wenn man sich auf Monster spezialisiert. Die Abgründe, die der Schauspieler auslotet, haben wirkliche Menschen tatsächlich durchschritten. Für sie stellen sie keinen Unterhaltungsstoff dar. Wer also "Die Auserwählten" mit einem sanften Schaudern und berechtigter Empörung anschaut, sollte wissen: Irgendwo im Land sitzen Menschen, die schreien möchten vor Wut.

"Die Auserwählten", 1. Oktober, 20.15 Uhr, ARD

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