Sat1 ist tot. So schien es zumindest noch Anfang des Jahres. Als die Branche im Januar 25 Jahre Privatfernsehen feierte, herrschte in Berlin vornehme Zurückhaltung. Während Dieter Bohlen, Sonja Zietlow und Günther Jauch in den RTL-Werbepausen eifrig Geburtstagstorten warfen, blieb es um die Sat1-Kollegen still. Ein Sender im künstlichen Koma. Man hatte damals ja auch nichts zu feiern. Der Sender, früher ernstzunehmender Rivale von ARD, ZDF und RTL, war in die Bedeutungslosigkeit abgerutscht.
Aber hinter den Kulissen vollzog sich schon der Umbruch. Der neue Defibrillator des Privatfernsehens, Guido Bolten, war damals frisch im Amt als Sat1-Geschäftsführer. Innerhalb weniger Monate konnte er das Kammerflimmern des Privatsenders dank Überraschungscoups - zuletzt die Exklusiv-Verpflichtung von Johannes B. Kerner - stoppen. Bolten hat schnell dafür gesorgt, dass sein Arbeitgeber zumindest wieder dick im Gespräch ist.
Imageschaden und sinkende Quoten
Probleme hat der Geschäftsführer genug gehabt - und ausgestanden sind sie noch längst nicht. Da war zum einen der Unmut der Mitarbeiter wegen des Umzugs von Berlin nach Unterföhring - ein Imageschaden für den Sender. Zum anderen - und das ist weit gravierender - kämpft Sat1 mit sinkenden Zuschauerzahlen und stagnierenden Marktanteilen. Das Ziel des neuen Senderchefs, von derzeit gut zehn mittelfristig wieder auf einen Zuschaueranteil von zwölf Prozent zu kommen, schien lange unerreichbar. Zumal die ersten Monate des 47-jährigen Bolten Monate der Flops waren. Während die Konkurrenz zu Beginn des Jahres mit dem "Dschungelcamp", "Deutschland sucht den Superstar" und "Germany's next Topmodel" an den Start ging, fehlten dem Berliner Sender die eigenen Formate und Marken. Sat1-Stars wie Hugo Egon Balder oder Kai Pflaume waren längst überreizt. Der konstant starke Nachmittag ("Britt", "Zwei bei Kallwass", "Richerin Barbara Salesch") konnte die katastrophalen Entwicklungen im Abendprogramm nicht wett machen - auch die guten Quoten beim Live-Fußball nicht.
Ein Sender ohne Profil
Serien wie "Plötzlich Papa" und "Dr. Molly & Karl" floppten, genauso wie die Show "Mister Perfect - Der Männer-Test" oder die Doku "Die Gerichtsvollzieher". Die Telenovela "Anna und die Liebe", mit der der Sender Ende August an alte "Verliebt in Berlin"-Erfolge anknüpfen wollte, brachte nicht die glänzenden Soap-Zeiten von 2005 zurück. Der "Grey's Anatomy"-Klon "Klinik am Alex" war eine regelrechte Totgeburt. Dass Sat1 Ende 2008 nachts wieder verstärkt auf die umstrittenen Call-In-Shows setzte - "aus wirtschaftlichen Gründen", so die Begründung aus Berlin - war bezeichnend für die Situation, in der sich der Privatsender befand.
Eines der größten Probleme des Senders ist seine Profillosigkeit. Was ist Sat1? Im Bereich Information läuft beim Privatsender seit dem Rausschmiss von Nachrichtenmann Thomas Kausch und der Einstellung der Nacht-News so gut wie gar nichts mehr. Late Night Shows gibt es seit dem kläglich gescheiterten Versuch von Anke Engelke, Harald Schmidt zu beerben, und der schnell abgesetzten Niels-Ruf-Show auch nicht mehr. Sat1 in der Strategiefalle: Was bleibt ist eine Anreihung von Wiederholungen, billig produzierten Gerichtsshows und unwitzigen "Fun Freitagen".
Die Medikation von Bolten: große Namen
Und jetzt also der große Wiederbelebungsversuch von Chefarzt Bolten. Die Medikation: große Namen wie Pocher, Kerner, Christiansen oder die Wiedereinführung der Marke "ran". Das kommt manchem bekannt vor. Schon Fred Kogel verpflichtete 1995, gerade erst als Sat1-Programmgeschäftsführer gestartet, spektakulär das Moderatorentrio Fritz Egner, Thomas Gottschalk und Harald Schmidt. Und jetzt der Bolten-Weg: keine wirklich neuen Formate, dafür altbewährte Gesichter. Führt dies zur Kehrtwende beim Koma-Sender? Die Kehrtwende habe laut einer Sat1-Sprecherin bereits zu Beginn 2009 angefangen, mit Boltens Amtsantritt. "Jetzt hoffen wir, dass sich die neue Strategie schnell auch in den Quoten widerspigelt."
Sat1 lässt sich die Reanimierung trotz der finanziellen Notlage des Mutterkonzerns ProSiebenSat1 einiges kosten: Ex-ARD-Polittalkerin Sabine Christiansen soll zusammen mit dem einstigen "Spiegel"-Chefredakteur Stefan Aust im Superwahljahr 2009 ein politisches Talk-Format bei Sat1 moderieren. Oliver Pocher wurde für ein Fußball-Casting-Format und eine wöchentliche Late Night Show teuer von der ARD abgeworben. Dann ist da noch der Erwerb der Champions-League-Rechte für geschätzte 75 Millionen Euro und jetzt der millionenschwere Kerner-Coup - ZDF-Gesicht Johannes B. Kerner wurde für die neue Fußballsendung "ran" und ein wöchentliches Abendmagazin verpflichtet. Kerner als der Günther Jauch von Sat1? Damit könnte der Sender sogar wieder gegen Konkurrent RTL anstinken. Und Kerner dürfte nicht der letzte Coup gewesen sein. Im Gespräch mit dem Branchenmagazin dwdl.de deutete Bolten an, dass sich Sat1 im Gefolge von Oliver Pocher und Kerner weiterhin nach neuen Gesichtern umschaut: "Wir können uns weitere Zugänge vorstellen."
Luxus-Verpflichtungen trotz finanzieller Schwierigkeiten
Nun ist es so, dass die ProSiebenSat1 Media AG hoch verschuldet ist. Und viele fragen sich jetzt, warum die Investoren Permira und KKR plötzlich so viel Geld ausgeben. Von "Brautaufhübschung" wird in Medienkreisen gesprochen, ein Verkauf des Senders wird vermutet. Fakt ist, dass der Sender sich von dem Umzug nach Unterföhring, bei dem nur rund 30 der 200 Mitarbeiter mitziehen, einiges an Einsparungen verspricht - weitere Maßhaltungen sind angekündigt. Wie kann man sich also die Millionen-Coups leisten? Die Luxus-Verpflichtungen machen stutzig. Eine Sat1-Sprecherin beschwichtigt gegenüber stern.de: "Alle Verpflichtungen liegen innerhalb der Programmkosten. Es ist nicht so, dass wir jetzt geheime Goldminen aufgetan hätten." Pocher und Kerner seien zwar keine Schnäppchen, aber lägen im Rahmen.
Der Patient zuckt noch
Goldminen hin oder her: Bolten hat Sat1 wieder ins Gespräch gebracht. Ob der angeschlagene Patient jedoch überleben wird oder nur Plazebos verschrieben wurden, wird sich ab dem Sommer zeigen, wenn die ersten Neuverpflichtungen auf Sendung gehen. Bis dahin gibt es auch diverse andere neue Formate. Innovatives hat Sat1 da allerdings nicht zu bieten. Im Juni starten zwei Formate aus dem Bereich Dokutainment, bei denen Sat1 kräftig bei RTL abgeguckt hat: der "Jugendcoach" und "Die Superlehrer". Auch den "Bauer sucht Frau"-Abklatsch "Gräfin gesucht - Adel auf Brautschau" wird es wieder im Programm geben.
Guido Bolten sagt, man wolle "zurück zu alter Stärke". Die vollkommene Genesung ist noch lange nicht vollzogen. Aber zumindest gibt es jetzt etwas Hoffnung. Der Patient zuckt noch. Chefarzt Bolten, bitte in den OP!