"Newtopia" Pinkeln und lästern - das Minutenprotokoll des Grauens

  • von Sylvie-Sophie Schindler
Der nächste Irrtum über "Newtopia": 15 Menschen verfolgen die Vision von einer besseren Welt? Von wegen. Stattdessen geht es um das Rumbringen von Zeit. Und das ist ebenso langweilig wie niveaulos.

Man stelle sich vor, eine atomare Katastrophe hat sich ereignet, und 21 Menschen stehen vor einem Bunker, in dem nur Platz ist für zehn. Er bietet die einzige Überlebenschance. Doch wer soll rein? Wer von ihnen ist es wert, zu überleben? Wer wird nach der Apokalypse in der Lage sein, die Zivilisation wieder aufzubauen? Die Modedesignerin? Die Psychotherapeutin? Der Biobauer? Die Bauingenieurin? Der Harfenspieler? Ein heikles Gedankenexperiment. Es entstammt dem amerikanischen Science-Fiction-Film "The Philosophers – wer überlebt?" und lief vor wenigen Wochen auf dem Nachbarsender ProSieben. Ethisch nicht ganz so hart zur Sache geht es bei dem seit 23. Februar laufenden Sat.1-Experiment "Newtopia". Doch auch hier ist der Plan, mit ausgesuchten Menschen – 15 von 8000 - eine neue Welt zu erschaffen. Noch mal ganz von vorne beginnen, ohne den ganzen Zivilisations-Schnickschnack – und es besser machen. Aber was nur heißt das?

Wer den Trailer gesehen hat, noch bevor die Show an den Start ging, könnte sich vielleicht gedacht haben, Mensch, das hat was, das könnte doch ganz interessant werden. Aber die Sendung, über die es hieß, Sender und Produktionsfirma würden nicht eingreifen, es sei nichts gestellt, hat inzwischen an Glaubwürdigkeit eingebüßt. Stichwort "Faketopia". Was folgt daraus? Lohnt das Einschalten trotzdem? Um es kurz zu machen: Nein.

Sind wir alle so langweilig?

Man führt diese Diskussion ja bereits seit es mit "Big Brother" losging. Diese Überlegung, ob man x-beliebigen Menschen dabei zuschauen muss, wie sie leben. Wenn auch unter künstlichen Bedingungen. Und dabei kommt man nicht umhin, sich irgendwann zu fragen: Ist Leben im Grunde nichts anderes als das Irgendwie-Rumbringen von Zeit? Und: Sind wir eigentlich alle so langweilig? Oder sind das nur die im Fernsehen? Klar, man kann auch sagen, muss es immer die große Action sein? Muss es nicht. Aber so narkotisierend wie bei "Newtopia" – wer will das schon? Und wenn ja, warum? - Das Protokoll von Mittwochabend:

19.00 Uhr: Ein Sprecher sagt, noch ist es düster, die Bewohner liegen im Schlaf: "Ein neuer Morgen, eine gute Gelegenheit, mit neuen Ideen durchzustarten."

19.01 Uhr: Die Pioniere, so nennen sie sich, haben es nicht so mit neuen Ideen. Sie beginnen ihren Tag damit, über Neuzugang Kate zu lästern. Die soll sich vor allem damit hervortun, mal dort und mal da herumzufummeln. Tatjana, die sich als unfreiwillige Lauscherin diverser Sexspielchen outet, empört sich: "Soll ich dich heute löffeln, das muss ich mir die ganze Zeit anhören." Ein Pionier gesteht: "Ich bin auch liebesbedürftig." Bereits jetzt will man kurz zurückblättern. Wie war nochmal die Idee? 15 mutige Menschen aus jeder Gesellschaftsschicht, jeder Altersklasse, jeder Herkunft versuchen zusammen eine Vision zu realisieren, die da lautet: Der Gesellschaft zeigen, wie Menschen mit respektvoll und vorbildlich im Team leben und gemeinsam eine soziale und wirtschaftliche Einheit bilden, in der trotzdem jedem Einzelnen Raum zur Entfaltung bleibt. Demnach dürfte Kate doch Sex haben, oder etwa nicht?

Niemand muss ein Topmodel sein

19.02 Uhr: Kalle jedenfalls darf sich entfalten. Er darf sich sogar ganz besonders ausbreiten mit seinem Übergewicht. Das ist freundlich. Niemand muss hier Topmodel sein. Kalle sagt: "Ich hab keinen Bock auf anstrengend." Ist das jetzt eine Vision, oder was?

19.04 Uhr: Pionierin Conny bläst einen orangefarbenen Luftballon auf. Und bindet ihn mit weiteren zusammen. Pionier Candy entlässt die Bastelei in den Himmel. Es soll, und drunter macht man es hier nicht, eine Botschaft werden an die Welt. Was denn für eine Botschaft, fragt man sich. Der Sprecher erklärt es: "Für ein bisschen Blödsinn ist man nie zu alt."

19.06 Uhr: Zeit für die wesentlichen Fragen. Man sitzt auf der Wiese, Pionierinnen und Pioniere. Die Frauen wollen wissen: "Wie ist es für euch Männer ohne Körperkontakt?" Und: "Wer hat es sich schon gemacht?"

19.09 Uhr: Aurica muss, und der Abschied zieht sich, aus gesundheitlichen Gründen für ein paar Tage zurück in die, wie es heißt, "alte Welt". Wo aber ist der Unterschied? Wie ein großer Wurf kommt einem die "neue Welt" bislang nicht vor.

Vegetarier Hans trauert um einen Fisch

19.19 Uhr: Conny bläst keine Luftballons mehr auf. Doch sie sagt ein paar Paulo-Coehlo-Sätze auf: "Die Welt ist voller Materie, aber nicht voll Liebe. Wir brauchen Menschen, die sich selbst lieben."

19.20 Uhr: Jeans werden kurz abgeschnitten. Man will gut aussehen in der neuen Welt. Der Sprecher dazu: "Auch das ist Newtopia."

19.24 Uhr: Ein toter Fisch wird in einer selbst gebauten Reuse gefunden. Vegetarier Hans trauert. Der Fisch wird mit einem "Sorry" begraben.

19.30 Uhr: Candy nuschelt, Candy pinkelt wild, Candy findet, warum nicht.

19.32 Uhr: Mehrere Pioniere nuscheln – reden die überhaupt deutsch?

19.33 Uhr: Pionier Peyman sagt: "Mit so Menschen würde ich draußen keine Zeit verbringen."

Pioniere mit Laptop und "Playboy"

19.34 Uhr: Hans trägt einen Kranz aus Gänseblümchen um den Kopf. Er trauert nicht mehr.

19.40 Uhr: Kalle scheint es zu genügen, wenn einer von beiden Übergewicht hat: Die Frau, die er sucht, soll bitteschön klein sein, süß und zierlich. Er checkt über einen Laptop - warum ist der erlaubt? - Bewerberinnen, ist unzufrieden mit der Auswahl. Weil: Zu dick.

19.51 Uhr: Neue Ideen – kommt da noch was?

19.52 Uhr: Der Tag endet wie er begonnen hat, mit Lästern über Kate. Ein Pionier abfällig: "Bei der ist untenrum mehr Betrieb als im Elbtunnel ."

19.53 Uhr: Der Sprecher , er leidet wohl an Wahrnehmungsstörungen, behauptet: "Ein ereignisreicher Tag neigt sich dem Ende zu."

19.54 Uhr: Hans blättert im "Playboy".

19.55 Uhr: Der Sprecher, weiterhin in einem Ton als würde er zu Grenzdebilen reden: "Schöne Träume von einer besseren Welt. Was werden die Pioniere wohl morgen anstellen?"

19.56 Uhr: Wenn das deine Visionäre sind, Deutschland, dann ist es wohl besser, du hast keine.

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