TV-Kritik: "Tatort" aus Stuttgart Ein Täter im Koffer

  • von Vivian Alterauge
Busso von Mayer (Thomas Thieme, ganz rechts) arbeitet als Freigänger bei Ian Henderson (Tomas Sinclair Spencer, 3.v.r.). Eine Kombination, die Sebastian Bootz (Felix Klare) und Thorsten Lannert (Richy Müller) wundert, immerhin hat Hendersons Firma von Mayers Immobilienprojekt nach der Pleite übernommen und umgeplant.
Busso von Mayer (Thomas Thieme, ganz rechts) arbeitet als Freigänger bei Ian Henderson (Tomas Sinclair Spencer, 3.v.r.). Eine Kombination, die Sebastian Bootz (Felix Klare) und Thorsten Lannert (Richy Müller) wundert, immerhin hat Hendersons Firma von Mayers Immobilienprojekt nach der Pleite übernommen und umgeplant.
© SWR/Alexander Kluge
Keinerlei private Baustellen der Ermittler, dafür viel Wirbel um ein Großbauprojekt. Ein spannender "Tatort" über das Brandthema Stuttgart 21. Der zwischenzeitlich sogar poetisch ist.

Rückblende, das Ende am Anfang. Werkseinstellung 000, und der Koffer springt auf. Man hört Fliegen summen, die von der Leiche emporsteigen. Das Opfer ist in Wahrheit der Täter. Doch wer im Koffer liegt, erfährt der Zuschauer erst in der letzten Sequenz. Es folgen Einblenden aus späteren Zeugenvernehmungen, gleich mehrere Zeitsprünge, da ist Konzentration gefragt. Doch bricht der Tatort erzählerisch mit dem Klassischen weil Sicheren: Leiche am Tatort/ Ermittler eilen herbei/ Spurensuche beginnt. Und das macht Spaß, von Anfang an. Trotz - oder gerade wegen des Themas. Stuttgart 21. Echt jetzt? Das ist doch so komplex, das lässt sich gar nicht mehr erzählen. Weder real noch fiktional. Denkste. Regisseur, Autor und Nicht-Stuttgarter Niki Stein hat einen dichten und durchdachten, einen spannenden Plot ersonnen und umgesetzt. Und einen Konflikt zurück aufs Tableau gehoben, der für Nicht-Stuttgarter ziemlich aus dem Fokus gerückt war.

Killer im Trenchcoat: Ex-Staatssekretär Jürgen Dillinger schaut seinem Mörder ins Gesicht.
Killer im Trenchcoat: Ex-Staatssekretär Jürgen Dillinger schaut seinem Mörder ins Gesicht.
© SWR/Johannes Krieg

Doch fangen wir von vorn an. Der ehemalige Staatssekretär Jürgen Dillinger (Robert Schupp) wird in einem Untersuchungsausschuss verhört. Es geht um einen Bauskandal, der mit dem Projekt S-21 zu tun hat. Gleisdreieck hieß es. Als er aus dem Saal tritt, wird er mit einem Farbbeutel attackiert. Und wenige Stunden später erschossen in seinem Kofferraum gefunden, hingerichtet von einem Profikiller im Trenchcoat. Verdächtige gibt es einige. Der ehemalige Ministerpräsident, mit dem er sich zum Joggen treffen wollte? Ist zwar seit Jahren egogekränkt weil abgewählt, aber harmlos. Aktivisten? Fallen ebenfalls raus.

Keine Zeit für Privatleben

Was folgt ist ein spannender Wirtschaftskrimi, in dem die Kommissare gar keine Zeit haben, sich den Baustellen ihres Privatlebens zu widmen. Volle Konzentration auf den Fall, welch herrliche Abwechslung zu den Junggesellenscheidungsworklifebalance-Intermezzi mehr oder minder mitgenommener Kommissare, von denen die "Tatorte" so oft durchwoben sind.

Stattdessen wird einmal quer durch Stuttgart gerast, nein, eigentlich gestaut, freie Fahrt ist im Kessel selten möglich. Es geht in den Wald auf der Anhöhe, ins Villenviertel, in Szenebars, ins Naturschwimmbad und in ein zwielichtiges Motel am Stadtrand. Bis sich das Puzzle aus kompromittierenden Fotos des Toten, von Überwachungskamera-Aufzeichnungen und Aussagen von Politikern, aufgeregten Aktivisten und dem Mittäter selbst zusammensetzt. Architekt Busso von Mayer war es, der den Mord in Auftrag gab. 

Das gedemütigte Bauernopfer

Der hatte doch nur eine Vision. Wollte der Stadt eine eigene Piazza Navona, einen Markusplatz, ein Monument bauen. So wie es mutige Menschen vor 800 Jahren in Köln taten, wie er selbst sagt. Doch dann fiel er auf einen Hochstapler-Investor aus Indien herein, Mayer wurde verurteilt, zog in den offenen Vollzug. Und musste als Freigänger auch noch in dem Architekturbüro anfangen, das anstelle seiner mit der Bebauung beauftragt wurde. Demütigung eines Bauernopfers.

Kurz bevor Mayer auffliegt, gibt er uns eines der schönsten Tatort-Zitate seit langem mit auf den Weg, um sein gutes Ansinnen zu unterstreichen. Stuttgart, so sagt er, sei ein städtebaulicher Irrtum. "Ein zubetonierter Talkessel, der von Abgasen einer ewig im Stau stehenden Blechlawine angeheizt wird." Am Ende stürzt er sich in diesen Kessel hinein, vom denkmalgeschützten Bahnhofsturm.

Derweil streiten verschiedenste Parteien weiter um Sinn und Zweck eines Großbauprojekts, das viel mehr ist als ein unterirdischer Bahnhof.  Real und fiktiv. 

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Von Vivian Alterauge

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