"Geh immer dahin, wo die Angst ist." Das forderte einst jene Therapeutin von Lena Jensen, von der die 28-Jährige heute sagt, sie habe sie damals "gerettet". Damals, als nach vier Jahren der sexuelle Missbrauch, den sie als kleines Kind erleben musste, endlich vorbei war, aber das Verarbeiten gerade erst begonnen hatte. Jensen folgte diesem Rat konsequent, und hat das nie bereut. Heute ist die Wahlhamburgerin Finanzberaterin, die speziell Frauen in schwierigen Lagen hilft, außerdem Schauspielerin, Model und Influencerin. Und sie bewirbt sich aktuell um den Titel der "Miss Germany". Wie verblüffend diese Erfolge sind, versteht man erst so ganz, wenn man ihre Geschichte kennt.
Über die Täter von damals möchte Jensen nicht sprechen, "es waren Menschen, die sehr nah an unserer Familie dran waren. Personen, mit denen ich sehr vertraut war", sagt sie im Gespräch mit dem stern. Lange habe sie nicht begriffen, was da Schlimmes mit ihr passierte: "Ich hatte das Gefühl, dass das so normal ist." Ihre Mutter jedoch bemerkte, dass etwas ganz und gar nicht normal war. "Mama war mit mir bei vielen Ärzten, weil ich so verhaltensauffällig war. Dann saßen wir irgendwann auf dem Bett und sie sagte ganz direkt: 'Lena, ich merke, dass da was nicht stimmt. Ist da was passiert?' Da haben wir gesprochen." Mit zwei Jahren hatte das Martyrium für Lena Jensen begonnen, mit sechs Jahren endete es nun. Doch: "Da fing das Trauma erst an, denn da habe ich gemerkt: Die dürfen das gar nicht! Ich habe mich auch sehr schuldig gefühlt, weil ich ja keinen Ärger machen wollte."
Die Täter wurden nie verurteilt
Im Anschluss an dieses Gespräch machten Lena Jensen und ihre Familie all das, was man in einem solchen Fall machen soll. All das machten sie richtig. "Meine Mama ist mit mir direkt zur Polizei gegangen und ich habe die Aussage gemacht. Ich konnte viel erzählen, es wurde alles auf Video aufgezeichnet", berichtet die junge Frau. Man habe ihr einen grellen Scheinwerfer und eine Kamera vors Gesicht gestellt, "das macht man inzwischen besser, glaube ich", und ihre Aussage wurde aufgenommen. Fast ohne Wut in der Stimme sagt sie: "Aber es hat leider nicht gereicht. Einige Sachen bei der Aufklärung sind nicht so schön gelaufen."
An ihren Schilderungen konnte niemand zweifeln, die Polizei schickte die damals Sechsjährige ins Krankenhaus und ließ sie untersuchen. Die Ärzte bestätigten den Missbrauch. "Ich habe das medizinische Gutachten", sagt sie im stern-Interview. Doch den mutmaßlichen Tätern ließ sich die Schuld nicht konkret nachweisen. "Ich hab' immer wieder versucht, die anzuzeigen", sagt sie. Inzwischen hat sie akzeptiert, dass sie nicht mehr tun kann, als sie all die Jahre versucht hat. "Darum ist das jetzt in Ordnung." Doch während Lena Jensen und ihre Familie kurz nach der Aufdeckung des Missbrauchs umzogen, konnten die Täter in ihrer Nachbarschaft wohnen bleiben. Während sich Freunde von den Jensens abwandten und die Aussagen des Mädchens in Frage stellten, behielten die Täter ihr Umfeld und ihre Bekannten. "Alles ist für sie weitergegangen. Ich habe sie irgendwann nochmal gesehen, wo sie dann sogar auch mit Kindern gespielt haben", sagt die junge Frau.
Der Weg zurück ins Leben war hart
Aber auch für sie ging es weiter. Es war nur unendlich viel schwerer. "Ich hab' als Kind versucht, mich selbst umzubringen. Ich stand tatsächlich auf dem Schuldach", sagt sie, fast verlegen. "Sie haben mich dann in die Psychiatrie gebracht." Doch dort fand sie nicht wirklich die Hilfe, die sie brauchte. Jensen hatte das Gefühl, dass die Ärzte und Psychologen selbst nicht recht wussten, wie sie mit einem Fall wie ihrem umgehen sollten. "Das war 1999, eine Umbruchzeit. Vorher hatte man über so etwas gar nicht gesprochen, vielleicht, weil es in der Nachkriegsgeneration so vielen Menschen passiert ist."
Doch durch Medienberichte über den Missbrauchsfall wurde eine Therapeutin auf das Mädchen aufmerksam. "Sie war eine der ersten, die EDMR-Therapie praktiziert hat. Sie ist dann zu mir gekommen, und hat das an mir ausprobiert." Zuerst sei sie skeptisch gewesen, sagt die 28-Jährige. Bisher hatte ihr niemand helfen können – warum dann nun diese fremde Frau. "Da hat sie gesagt: 'Mach die Augen zu und stell dir etwas vor, dass du wirklich gern möchtest. Dann helfe ich dir, das zu erreichen.'" Jensen stellte sich vor, wie sie auf einer Bühne stand und sang. Vor Publikum. Sie, die solche Angst vor Menschen hatte und der die Ärzte eine ausgeprägte Sozialphobie attestiert hatten. Sie, die stotterte – seit die Täter ihr so oft und so eindringlich verboten hatten, über das Geschehene zu sprechen. Sie, die ihren Körper oft gar nicht spürte, trotz Therapien und Schlammpackungen. Sie, deren Hände oft so starr verkrampft waren, weil "wenn du so viel Wut hast, wird der Körper irgendwann ganz, ganz fest."
Lena Jensen würde jedem Betroffenen zur Therapie raten
EDMR ist eine Therapie-Methode, mit der Traumafolgestörungen bei Erwachsenen, aber auch Kindern und Jugendlichen behandelt werden können. In Deutschland wird sie seit den 90er Jahren angewendet, gearbeitet wird unter anderem mit Augenbewegungen. Lena Jensen half das, sich mit dem Geschehenen auseinanderzusetzen und den Fokus auf die Zukunft zu lenken. "Ich wollte mich nicht von den Begrenzungen anderer Menschen begrenzen lassen. Ich wollte mir nicht auch noch den Rest meines Lebens nehmen lassen."
Doch leicht war es nicht. "Was sehr schwierig war für mich: Beziehungen zu führen, nachdem das Vertrauen einmal so missbraucht worden ist. In der Pubertät war es für mich sehr schwierig, mich körperlich auf Männer einzulassen. Ich hab' das auch nicht sofort jedem erzählt, was dann oft zu Missverständnissen führte." Sie habe stets ganz bewusst nach "lieben" Männern gesucht, denen man vertrauen könne, sagt sie. Heute ist Jensen verlobt, mit ihrem Partner Lukas sprach sie nach zwei Monaten Beziehung über das, was ihr als Kind widerfuhr. "Für meine Verhältnisse relativ früh. Er hat ganz toll reagiert."
Eine Karriere, die zu ihr passt
Jensen, die für ein Jurastudium nach Hamburg gezogen war, das sie in den letzten Zügen dann doch entschlossen abbrach ("weil das eigene Rechtsempfinden nicht immer das ist, was Gesetz ist"), arbeitet heute als selbstständige Finanzberaterin. Sie hilft vor allem Frauen bei deren wirtschaftlichen Angelegenheiten, weil ihr das wichtig ist. "Wir hatten damals auch Schwierigkeiten, ich bin in nicht so reichen Verhältnissen aufgewachsen. Da hatte man viel Berührung mit Finanzen und Gesetzestexten, und hat selbst gespürt, wie sehr es dabei um Existenzen gehen kann." Sie habe immer schon etwas Sinnvolles tun und anderen helfen wollen.
Die Schauspielausbildung, die sie ebenfalls absolviert hat, das war eher für sie selbst. Weil es all das war, was sie fürchtete – und ihre Therapeutin hatte ihr ja einst das Mantra "Da wo die Angst ist, ist der Weg" mitgegeben. "Ich habe einen Weg gesucht, mich mit dem eigenen Körper auseinanderzusetzen, und habe festgestellt, dass das in die künstlerische Richtung für mich funktioniert. Ich fand mich nie so hübsch, da wird einem ja ein Bild von außen vorgegeben. Aber man hat direkt eine andere Selbstreflexion, wenn man mal von außen auf sich draufschaut. Dann sieht man, dass es gar nicht darauf ankommt, wie etwa dein Gesicht geformt ist, sondern nur auf die Ausstrahlung." Sie dreht seither Werbefilme und modelt bei Fotoshootings.
Warum es so wichtig ist, offen zu sprechen
Durch die regelmäßigen Drehs und Fotosessions nutzte Lena Jensen fast automatisch schon sehr früh die Plattform Instagram, "damals war das noch gar nicht so bekannt". Inzwischen hat sie dort mehr als 70.000 Abonnenten, mit denen sie ihre schönen Fotos und immer wieder Einblicke in ihr Leben teilt. Auch ihnen hat sie vor kurzem die Erlebnisse aus ihrer Kindheit offenbart. "Früher war das wie eine Schande, wie ein Brandfleck auf deiner Haut. Ich hab' mich oft gefühlt, als wäre ich eklig dadurch. Und ich hatte das Gefühl, wenn ich das erzähle, werde ich immer darauf reduziert. Schade, dass man so oft nicht den ganzen Menschen sieht, denn so etwas macht einen ja auch stärker. Aber: Durch diese Scham haben die Täter aber ja auch einen Schutz." Und diesen Schutz will sie ihnen nehmen, indem sie offen spricht.
"Das hat mir meine Mama beigebracht. Sie sagte: 'Wir reden da jetzt ganz offen drüber, in der Familie, das ist jetzt ein Teil von dir.' Wenn man etwas hat, das zu einem gehört, kann man auch darüber reden. Und plötzlich sieht man um sich herum, dass es ganz vielen anderen auch so geht – dabei dachte ich damals, ich wäre die einzige. Ich habe mich so einsam gefühlt!" Sie berichtet von einem besonders bewegenden Erlebnis: "Meine beste Freundin kam nach zehn Jahren zu mir, nachdem ich ihr davon erzählt hatte, und sagte, ihr sei das auch passiert. Wenn wir früher darüber gesprochen hätten – wir hätten uns gehabt! Darum möchte ich dazu aufrufen, über Missbrauch zu sprechen und zusammenzuhalten, denn so nimmt man den Tätern den Schutz des Schweigens."
Inhalte statt Aussehen
Das war letztlich auch die Motivation für sie, sich bei der "Miss Germany"-Wahl zu bewerben. Auf den ersten Blick irritierend, denn mit einer Miss-Wahl verbindet man eher Frauenfeindlichkeit und radikale Reduktion aufs Äußere. "Ich war nie ein Fan von Schönheitswettbewerben, ich fand das oberflächlich", sagt Jensen. "Aber ich habe dieses Jahr gelesen, dass sie das verändern wollen. Und dass sie Frauen suchen, die eine Stimme haben und inspirieren wollen. Das ist genau das, was ich suche, ich will einfach eine Stimme haben und den Menschen da draußen sagen: Es kann auch positiv ausgehen."
Im Vorfeld mussten die Kandidatinnen etwa Texte verfassen, in denen sie ihre konkrete Botschaft auf den Punkt bringen sollen. Solche Aufgaben machen Lena Jensen Spaß. "Man hinterfragt und reflektiert sich da noch einmal selbst." Sie ist eine von insgesamt 160 Kandidatinnen, die Gruppe wird durch ein Publikumsvoting dann auf 80 reduziert, von einer Jury dann noch einmal auf 40, bis es irgendwann ins große Finale geht. "Ich glaube, dass ich ganz gute Chancen habe", sagt sie selbstbewusst. "Ich bin sehr zielstrebig, sehr authentisch, und ich mach' aus Überzeugung mit. Mir geht’s aber nicht unbedingt darum, zu gewinnen, sondern so lange wie möglich dabei zu sein und meine Botschaft rüberbringen zu können. Es ist eine richtige Herzensangelegenheit."