Als sie plötzlich einen halben Meter hinter ihm stand, da konnte sie nicht anders. Klar hatte man ihr eingeschärft, während der Verhandlung nicht zu reden oder zu lachen oder auch nur Kaugummi zu kauen, und natürlich wusste sie, dass man den Angeklagten in Ruhe lassen sollte, sie hatte den ganzen Tag keinen Piep gesagt. Aber wie er da beim Rausgehen aus dem Gerichtssaal vor ihr am Metalldetektor warten musste, mit diesem langen, rabenschwarzen Haar, groß, mindestens einen Kopf größer als sie, und so mager, dass seine Ellenbogen aus dem Jackett stachen wie Zeltstangen, da entfuhr Svenja ein tief empfundenes: "Michael, we love you!" Und der Angeklagte verzog sein tragisches, weißes Clownsgesicht zu einem Lächeln und nickte wissend und müde, als hätte ihm Liebe, oder was immer er darunter verstand, schon genug eingebrockt.
Für zwei Wochen ist die 24-jährige Svenja aus Berlin angereist, um im kalifornischen Provinzstädtchen Santa Maria das Verfahren gegen den einst größten Popstar der Welt zu verfolgen. Jeden Morgen um sechs steht sie vor dem scharf bewachten Gerichtsgebäude und wartet, bis ein Polizist vor das Metallgitter tritt und Lose für Prozessbeobachter verteilt. 122 Sitzplätze gibt es im Saal C des obersten Kreisgerichts von Santa-Barbara-County, einem hügelig-grünen Weingebiet zwei, drei Autostunden nördlich von Los Angeles. 45 Plätze sind reserviert für Fans und Neugierige, der Rest für Presse, Mitarbeiter, Angehörige.
Seit Prozessbeginn am 28. Februar sitzen jeden Tag im schlichten, braun getäfelten Verhandlungssaal Michael Jacksons Eltern rechts außen in der zweiten Reihe - Katherine in leuchtend bunten Kostümen, Joe mit Goldohrring und einer Miene, als wäre er zu Zwangsarbeit verurteilt. Wenn der 46-jährige Angeklagte dann auftaucht, immer in Begleitung eines schrankförmigen Leibwächters, hört man aus den Reihen, in denen die Fans sitzen, nervöses Wispern und Kichern; er formt kurz das Siegeszeichen mit Zeige- und Mittelfinger, lächelt, dann fällt der Vorhang seines Haars vor die unglaublich spitze Nase, und für den Rest der Verhandlung sieht man von Michael Jackson kaum mehr als seinen Hinterkopf. Manchmal eine bleiche Hand; die Fingernägel wirken wie mit Karamell lackiert, letztes Zeugnis der einst schwarzen Haut vom bleichsten Menschen hier im Saal.
Ein Freak, ein Heiliger, ein ewiges Kind, ein Kinderschreck. Viel wird über ihn gesagt. Aber Kinderschänder? Jackson wird vorgeworfen, sich vor zwei Jahren an einem damals 13-Jährigen im Schlafzimmer seiner so genannten Neverland-Ranch vergangen zu haben; er soll dem Jungen, einem Krebspatienten, Alkohol ausgeschenkt und dessen Familie gefangen gehalten haben. Zehn Anklagepunkte liegen gegen den Pop-Sonderling vor; wird er schuldig gesprochen, rechnet er mit bis zu 20 Jahren Haft.
Ist es eine Tragödie, die sich da abspielt? Die Legende vom einsamen Superstar, der seiner törichten Großzügigkeit zum Opfer fiel? Michael Jackson überschüttete den Jungen und dessen Familie - die zu fünft in einer Einzimmerwohnung im ärmlichen East Los Angeles lebten - mit Geschenken, ließ sie mit seiner Kreditkarte einkaufen. Nährte er damit die Gier nach mehr und letztlich auch den Racheplan einer falschen Anschuldigung, als seine Zuwendung versiegte? Oder erkaufte er sich ihre Gunst und ihr Schweigen? Dann würde vor diesem Geschworenengericht in Santa Maria ein Pädophiler entlarvt, der begehrlich Kinder um sich schart mit Einladungen in seinen Privatzoo, ins Privatkino und den Vergnügungspark, nicht anders als der böse Onkel, der mit Schokolade lockt.
Es ist ein Rätsel, an dessen Lösung die Nation nur gebremst Anteil nimmt. Natürlich erschien vor 14 Tagen das Sensationsbild von Jackson mit Pyjama-Hose in jeder US-Zeitung, in allen Nachrichten - er war vom Richter trotz angeblichen Rückenleidens aus dem Krankenhaus ins Gericht zitiert worden und fand zwar noch Zeit fürs Make-up, nicht aber fürs korrekte Beinkleid; ein Festtag für die Late-Night-Komiker. Die Quoten für Fernsehberichte über das laufende Verfahren sind jedoch nur durchschnittlich, und an den Zäunen ums Gericht lungern oft mehr Reporter aus aller Welt - von Brasilien bis Neuseeland, von Schweden bis Japan - als ganz normale Schaulustige. 53 TV-Stationen berichten aus Zelten direkt vor dem Gerichtsgebäude, CNN und NBC haben wuchtige Sendetürme aufgebaut. Direkt gegenüber bietet ein Anwalt die Dachterrasse über seinem Büro für zweieinhalbtausend Dollar am Tag zur Miete an; er hat prächtige Sicht auf den Gerichtshof, vor allem, seit über Nacht so rätselhaft die Kronen der Straßenbäume gekappt wurden. In seinem Vorgarten stehen neuerdings auch zwei Cola-Automaten, Hysterie wurde erwartet, allein: Die Masse bleibt fern.
Als 1995 dem schwarzen Football-Star O.J. Simpson vorgeworfen wurde, seine Frau und ihren Geliebten ermordet zu haben, fieberte das ganze Land am Fernseher mit. Die Live-Übertragung aus dem Gerichtssaal blähte sich zur symbolschweren Saga von Ruhm, Rassismus und Gewalt, in der jeder Amerikaner eine Identifikationsfigur finden konnte und in deren Zentrum ein Krimi stand: Wer war's? Im Fall Jackson - der nicht im Fernsehen übertragen wird - gibt es keine Parallelen zum US-Alltag und niemanden, in dem man sich wiedererkennt oder erkennen möchte. Und die Frage, die es für die Geschworenen zu klären gilt, ist so kompliziert wie lähmend. Sie lautet: Ist es überhaupt geschehen?
Details aus dem Fall Nr. 11336-03 sind wenig zur Diskussion am Abendbrottisch geeignet. Kaum jemand verspürt Lust zu erörtern, ob der Bruder des mutmaßlichen Opfers nun gesehen hat, dass Jacksons Hand auf oder in der Hose des Jungen lag. Ob es Schlafanzughosen oder Boxershorts waren. Ob er die Hand dabei bewegte oder nicht. Für die Öffentlichkeit ist die sexuelle Belästigung von Kindern ein Tabu- und Ekel-Thema, und gerade seine hochemotionalisierte Abwehr macht es so leicht, den Vorwurf zu erheben, den Verdacht zu streuen. Wenn ein Mann mittleren Alters zugibt, gern mit Kindern das Bett zu teilen - wie der Angeklagte es im britischen Dokumentarfilm "Living with Michael Jackson" getan hat, der im Februar 2003 die Ermittlungen ins Rollen brachte -, dann schrillen sämtliche Alarmglocken. Auch wenn der Mann sich selbst als Peter Pan bezeichnet, als "gefühltes Kind", angeblich frei von sexuellen Absichten. Auch wenn es genug Leute gibt, die in Gesprächen auf der Straße vor dem Gericht achselzuckend zugeben, dass sie auch schon mit Kindern in einem Bett gelegen haben, "what's the big deal?", was soll das Ganze?
"The big deal", vielleicht sind das die geschätzten 20 Millionen Dollar, die 1994 von Jackson an die Familie eines Jungen bezahlt wurden, der die gleichen Vorwürfe erhob. Der Fall kam nie vor Gericht. Staatsanwalt Thomas Sneddon, "Mad Dog" genannt wie ein Serienheld, kämpft derzeit dafür, dass diese Geschichte vor den Geschworenen noch einmal aufgerollt wird, zeige sie doch, dass dem Entertainer seine Liebe zu kleinen Jungs schon einmal zum Verhängnis wurde (der Richter hat es bislang untersagt). Derselbe Anwalt, der damals den außergerichtlichen Vergleich erstritt, arbeitet nun für die Familie im aktuellen Fall. Er habe, so argumentieren Jacksons Verteidiger, die Familie erst auf die Idee gebracht, Anzeige zu erstatten, nachdem sie sich in Wahrheit wohl von Jackson vernachlässigt fühlten: Nach März 2003 gab es keine Einladungen mehr nach Neverland, keine Geschenke. Fern am Horizont hätten da die 20 Millionen geleuchtet. Für Jacksons Team, angeführt vom weißmähnigen Ex-Boxer Thomas Mesereau, lautet das Motiv ganz klar: Geld, Geld, Geld.
Es handle sich,
wie das Nachrichtenmagazin "Newsweek" nörgelte, nicht gerade um eine "amerikanische Bilderbuchfamilie", die sich nun im Zeugenstand wiederfindet. Die 36-jährige Mutter gilt als prozesswütig, erstritt von einem Warenhaus einmal rund 150 000 Dollar, weil sie dort von Detektiven begrabscht worden sei. Der Vater, der von seinen Kindern als gewalttätig beschrieben wird, habe den älteren Sohn schon mal angewiesen, einen Komiker in Los Angeles fälschlich des Diebstahls zu bezichtigen: Der habe dem Jungen einen Geldbeutel mit 300 Dollar gestohlen. Und in Neverland, so sagte vergangene Woche eine ehemalige Hausangestellte aus, seien die zwei Buben - wie viele der kleinen Gäste - völlig außer Kontrolle geraten. So hätten die beiden sie einmal "scherzhaft" mit einem Küchenmesser bedroht. Laut Anklage sei es auf dem Anwesen zu Telefonstreichen gekommen, man habe Wein aus Cola-Dosen getrunken, Porno-Seiten im Internet angeklickt und vor- und miteinander masturbiert - vielleicht kein vorbildliches, aber auch kein ungewöhnliches Verhalten für 13-Jährige. Die Präsenz eines 46-Jährigen bei solcherlei Unternehmungen hingegen bleibt verstörend, zumal er sich, laut Aussage des heute 15-jährigen Klägers, als "Lehrer" hervorgetan und verkündet hätte, Männer müssten sich selbst befriedigen, sonst käme es zu Vergewaltigungen.
Den Spruch habe auch seine Großmutter gebracht, gab der Junge vergangene Woche im Kreuzverhör mit Jacksons Anwälten zu. Was kein Widerspruch ist, aber irritierend. Und in einem Fall, in dem es keine Beweise gibt, sondern nur Darstellungen, die einander ausschließen, nährt jede Irritation Zweifel an der Version, die gerade verkündet wird.
Es ist leicht zu sehen,
weshalb der Junge und der Mann, die sich da gegenüberstehen, zueinander fanden. Beide kommen aus nicht gerade heilen Familien, haben Väter, die sie körperlich züchtigten. Eine friedliche Kindheit erlebte keiner von ihnen, der eine wurde erbarmungslos von Bühne zu Bühne getrieben, der andere erkrankte mit zehn Jahren an Leukämie, verlor eine Niere, erlitt eine Chemotherapie.
Als sie sich kennen lernten, hatten beide mit einem so genannten normalen Leben nichts zu tun. Hier Jackson, der exzentrische, manche sagen: geniale Entertainer, von bizarren Gerüchten umgeben und zu Sozialkontakten kaum in der Lage (wenn man von zwei gescheiterten Show-Ehen absieht); in seinem Anderssein umso hartnäckiger von Fans verehrt, als machte die Anbetung sie so besonders wie ihn. Auf der anderen Seite ein Junge, der von seinem Krankenhausbett aus Prominente anrufen durfte, deren Nummern ihm, dem Todkranken, ohne Zögern zugesteckt wurden. Jackson sehnte sich danach, ein Kind zu sein. Das Kind sehnte sich danach, zu leben. Sie wurden "die besten Freunde", sagt das Kind.
Als Jackson vergangene Woche das Gericht verließ, war er wie stets unter einem schwarzen Schirm versteckt, den einer seiner vier bulligen Leibwächter gegen Beobachter aufspannte. Nur seine dünnen Beine ragten hervor. Eine amerikanische Journalistin ging in die Knie: "Michael", rief sie unter den Sichtschutz, "wie geht es Ihnen?" Der Schirm fuhr in die Höhe, das grotesk operierte Gesicht leuchtete weiß auf. "Ich habe immer noch Rückenschmerzen", wimmerte er mit Kinderstimme. "Und wie beurteilen Sie den Prozessverlauf?"
Wusch, ging der Schirm nach unten.
Raymone Bain, Jacksons Pressesprecherin, strahlte: "Sie werden verstehen, dass er dazu nichts sagen kann." Und dann fügte sie hinzu, dass ihr Arbeitgeber ansonsten optimistisch sei und täglich zwecks Erbauung mit Reverend Jesse Jackson telefoniere. Er mache sich jetzt auf den Weg nach Hause zu seinen drei Kindern, mit denen spiele er bis zum Abendessen. Manchmal, sagte sie, wollten Prince Michael, 8, Töchterchen Paris, 6, und der dreijährige Prince Michael II. auch ein Eis, dann müsse Papa ins Dorf mit ihnen; an dieser Stelle fühlten sich die Reporter, als würde ihnen gerade ein Weihnachtsmärchen verkündet. Grinsen, ungläubiges Schnauben, ja sicher, Jacko steht im Eisladen für Vanille an.
"Er hat mir die Hand geschüttelt", sagt später hoch zufrieden Svenja. Sie ist vom Gericht die 20 Meilen nach Süden gepest ins malerische Santa-Ynez-Tal, zum Tor vor Neverland. Zwei Dutzend rote Papierherzen hat sie ausgeschnitten und an das Gatter geklebt. Als Jacksons schwarzer Van vorfuhr, kurbelte der Star das Fenster herunter und grüßte seine Anhänger. Um die 20 junge Leute hängen jeden Abend hier herum, parken am Straßenrand und sitzen auf dem Mäuerchen unter einer riesigen Eiche. Aus ihren Autos dröhnen Jackson-Songs. "You Are Not Alone", das war sein letzter Nummer-eins-Hit. Es ist zehn Jahre her.
Mehr als eine Million Dollar muss der selbst ernannte "King of Pop" jeden Monat für den Betrieb von Neverland und seine anderen laufenden Kosten aufbringen, die Anwälte nicht mitgerechnet. Vergangene Woche gab es Gerüchte, dass einige seiner 120 Angestellten nicht bezahlt werden konnten, dass sein Bruder Randy mehrere tausend Dollar vorschießen musste. Die Staatsanwaltschaft in Santa Maria behauptet, der Angeklagte habe mehr als 300 Millionen Dollar Schulden. Hinter dem Gatter zieht eine Kuhherde mampfend über die gewundene Auffahrt. An deren Ende, so glauben die jungen Leute vor dem Tor, liegt ein Paradies. Ein Ort immerwährenden Frohsinns, unvergänglicher Unschuld.
Im November 2003 beschlagnahmte die Polizei Porno-Material in diesem Paradies. Sexheftchen mit Namen "Barely Legal", "kaum zulässig", im Nachttisch des Hausherrn und unter Tausenden Büchern auch Fotobände mit lasziven jungen Männern auf dem Titel.
"Kennen Sie Bruce Weber?",
fragt Jacksons Anwalt Robert Sanger den Chef-ermittler. "Nein", antwortet der Polizist. Einer der beschlagnahmten Bildbände war von Weber, einem international renommierten Fotokünstler.
Der Jury werden Aufnahmen von Zimmern in Neverland gezeigt, voll gestopft mit Kisten, Koffern, Tüten. "Mr. Jackson wirft nichts von dem weg, was seine Freunde und Fans ihm schicken", sagt Sanger. Seine Freunde, das sind unter anderem Bruce Weber und Liz Taylor, Liza Minnelli hat Karten geschickt, auf dem Piano steht ein gerahmtes Schreiben von Steven Spielberg, im Flur hängen Briefe von Shirley Temple und Walt Disney.
Die Geschworenen gucken, als wären sie unbeeindruckt. Schwer zu glauben, dass sie es sind. Prominentenprozesse sind die Pest. Wir befinden uns in einer anderen Welt, scheint der Verteidiger zu sagen. In der nichts so ist, wie wir es kennen. Nichts so ist, wie es scheint. Die Welt von Michael Jackson. Der Junge war einst Teil dieser Welt. Befragt nach seinem "besten Freund" sagt er: "Ich mag ihn nicht mehr."