Trend Die neue Lust am Verschwinden

Dicke Bäuche, dicke Autos, dicke Hose - das alles ist vorbei. Wer heute zeigen will, was er hat, setzt ganz auf die schlanke Linie. Egal, ob bei Technik, Mode oder Möbeln - in ist, was slim ist. Wir reduzieren uns so lange, bis gilt: Weniger wird schwer

Man kann es für ausgeschlossen halten, dass Nicole Richie Kafka gelesen hat. Und doch scheint es, als habe sie sich einen seiner Helden zum Vorbild genommen: den "Hungerkünstler", über den es heißt, die Ehre seiner Kunst habe es ihm verboten, dass er "auch das Geringste nur gegessen hätte". Am Ende war er dünn wie das Stroh, auf dem er lebte, und er wurde, als das Hungern ein Ende hatte, mit ihm begraben.

Wenn man sich die jüngsten Fotos von Miss Richie anschaut, liegt der Gedanke an Stroh nicht fern: Sie hat es geschafft, ihr Körperfett komplett zum Verschwinden zu bringen. Ähnlich steht es um Victoria Beckham und Keira Knightley: Auch ihre Kunst besteht in der totalen Diät. Sie sind die Repräsentantinnen der Stunde null: Ihre Jeans kaufen sie in "Size Zero" (das ist ein Größe kleiner als XS). Von Kalifornien aus hat sich dieser Hüftschrumpfungstrend schon in ganz Amerika und in England durchgesetzt: Die Bekleidungskette Gap hat die Größe null bereits ins Sortiment aufgenommen - ebenso wie der Londoner Trendladen Top Shop.

Wenn nicht "zero" dann wenigstens "nano"

Es sind die Nuller Jahre, und alles um uns passt sich der schmalen Silhouette an: Es reicht nicht mehr, "light" zu leben, es muss leichter als light sein, "zero" eben: Coca-Cola etwa brachte gerade eine "Zero"-Brause auf den Markt. Die aktuellen Jeansmodelle, vor allem die der schwedischen Marke "Acne", sind auch in normalen Größen so eng, dass man sich im Vergleich zu ihnen in einem Kernspintomografen geradezu casual fühlt.

Wenn etwas nicht "zero" ist, dann ist es wenigstens "nano" - wie der iPod gleichen Namens, der in seiner jüngsten Ausführung mit 6,5 Millimetern dünner ist als ein Bleistift (oder ungefähr so breit wie der kleine Finger von Nicole Richie). Oder etwas ist "micro" - wie der kleinste Gameboy von Nintendo, der weniger als eine Tafel Schokolade wiegt. Die Mobiltelefone der Saison, das Motorola "Motorizr" (mit "Topmaßen", wie der Hersteller verkündet) und das Samsung SGH-X820 (angeblich "das schmalste Handy der Welt"), sind so flach, als habe man auch sie auf Hungerkur gesetzt, und damit sie nicht für immer verschwinden in einer Damenhandtasche, hat man ihnen als Gegentrend Klingeltöne mitgegeben, die alles andere als zero sind: je dünner der Körper, desto schriller sein Klang. Wahrscheinlich kann auch Victoria Beckham sehr laut mit ihrem David schimpfen, wenn der mal wieder vergessen hat, die SMS seiner Geliebten zu löschen. Wahrscheinlich hat er auf seinem Minihandy den Löschknopf nicht gefunden.

Wir lösen uns auf: Filme wie "Miami Vice" kommen mit einem Zero-Drehbuch aus - und sind trotzdem sehr ansehnlich; Funk-Stücke wie "Black Sweat" von Prince und "SexyBack" von Justin Timberlake wirken so skelettiert wie die Stühle der Möbeldesigner Konstantin Grcic oder Jasper Morrison. Pete Doherty hat es mit Hilfe von einer Vielzahl von Drogen geschafft, als bleicher Schatten durchs Rock-'n'-Roll-Leben zu schleichen, gekleidet übrigens in die Anzüge eines Mannes, der die Schwindsucht bereits im Namen trägt: Hedi Slimane - Hedi, der schmale Mann. Der Dior-Designer soll übrigens für die Halbierung von Karl Lagerfeld verantwortlich sein, der so dünn werden wollte, dass er in eine Dior-Jeans passt. Ist ihm bekanntlich gelungen.

Was ist nur los? Können und wollen wir uns nicht mehr sehen? Trendkenner haben wie immer Erklärungen zur Hand: "Feingliedrig ist das Idealbild, die Realität sieht aber anders aus: Da gibt es viele übergewichtige Menschen", sagt Peter Wippermann vom Trendbüro. "Also ist alles, was verschwindet, kostbar. Je dünner etwas erscheint, desto attraktiver und kostbarer wirkt es."

Heute wird mit kleinen Dingen geprotzt

Wippermanns Kollege Jens Lönneker vom Rheingold-Institut findet: "Wo es Überfluss gibt, entsteht eine Gegenbewegung, und alles wird verkleinert." Die Produkte, mit denen man früher geprotzt habe, seien kompakter geworden. Das mache sie interessant: "Wo man früher mit großen Dingen angegeben hat, wird heute mit dem Kleinsten angegeben." Sei es mit dem Taillenumfang, dem Handy, der Digitalkamera oder dem Relaxsessel.

Dass man die Lust zu verschwinden nicht allzu ernst nehmen muss, hat im Übrigen ein prominenter Vorgänger gezeigt: Als Frank Sinatra im Juni 1971 zum ersten Mal in seiner Karriere ein Abschiedskonzert gab, verabschiedete er sich mit den Worten: "Excuse me while I disappear." Er ist bis zu seinem Tod 1998 trotzdem noch einige Male wiedergekommen.

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Oliver Creutz<br/>Mitarbeit: Katja Weiland von Ruville

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