Die Fotografin Tamina Florentine Zuch hat diese Reise schon einmal gemacht. Für eine NEON-Reportage war sie bereits 2014 auf Güterzügen durch Amerika unterwegs. Und schon damals lernte sie Leute und Landschaften kennen, die ihr sonst verborgen geblieben wären, und gewann einen tiefen Einblick in die Kultur der Hobos, die einst millionenfach auf den Zügen durchs Land getrampt sind. Nur waren seinerzeit noch ein Autor und ein weiterer Fotograf mit dabei. Dabei funktionieren so ein ungewöhnliches Abenteuer und die daraus resultierenden Begegnungen und Erlebnisse am besten im Alleingang.
Für Tamina war also immer klar, dass sie diesen Trip wiederholen würde, und zwar solo - "like a Hobo", sozusagen. Das hat sie nun getan, und ihre "Suche nach der absoluten Freiheit" (Klappentext) hat sie in einem beeindruckenden Buch festgehalten: "Supertramp" erzählt von ihren Erfahrungen als blinde Passagierin auf den Güterzügen, die quer durch Amerika tuckern. Tamina hat sechstausend Meilen in sechs Wochen zurückgelegt, auf eigene Faust von New York nach San Francisco.
"Supertramp" ist in mindestens zweierlei Hinsicht bemerkenswert geraten: Zum einen ist es erstaunlich, wie verdammt gut die Fotografin schreiben kann - in kurzen Sätzen vermittelt sie dem Leser ein intensives Gefühl für die sehr unterschiedlichen Situationen, die sie unterwegs zu meistern hat. Darüber hinaus bestechen ihre Beobachtungen durch eine tiefe Menschlichkeit, die für eine solche Reise durchaus (über-)lebenswichtig sein kann.
"Wenn du hier erwischt wirst, bist du am Arsch"
Ihre Gabe als Erzählerin beweist Tamina auch im NEON-Interview: Wir haben mit ihr über das Springen auf Züge, großzügige Trucker, gefährliche Bundesstaaten und das Trampen mit einem Schwerverbrecher gesprochen.
Tamina, was ist das Besondere am Reisen mit dem Zug?
Es ist zurückhaltender, irgendwie neutraler. Du bist nicht direkt am Verkehr beteiligt, sondern stiller Beobachter. Von außen sehen die Leute nur den Zug und nicht dich. Im Auto bist du aktiver und ein Bus fährt nicht so lange Strecken, außerdem bist du da auf der Straße und viel variabler. Da kannst du anhalten, wann du willst. Der Zug fährt auch ohne dich.
Hast Du ein besonderes Faible für Güterzüge?
Ich bin kein Trainspotter. Es gibt Fotografen, die ewig an einem Ort warten, bis ein bestimmter Zug vorbeifährt. Das ist bei mir nicht der Fall. Ich merke aber, dass ich durch die beiden Reisen total sensibilisiert bin für Güterzüge. Ich kann die unterschiedlichen Züge jetzt auch am Klang unterscheiden. Und immer wenn ich irgendwo einen Güterzug sehe, schaue ich sofort: Könnte ich da irgendwo aufspringen? Da wird man in Deutschland natürlich oft enttäuscht. (lacht)
Geht das in Deutschland überhaupt?
Theoretisch schon. Es gibt aber nur sehr wenige Züge, wo du überhaupt aufspringen kannst. Die sind dann oben offen, aber davon gibt es in Deutschland nicht mehr viele. Außerdem gibt es hier überall Stromleitungen. Das ist dann halt auch nicht so witzig.
Worin unterscheidet sich der Güterzugverkehr in Deutschland noch von den USA?
Die Strecken sind nicht so lang. Und wenn du hier erwischt wirst, bist du am Arsch.
In Amerika, wo so viele Leute auf Güterzüge springen, etwa nicht?
Hängt davon ab, in welchem Bundesstaat du bist. In Florida sind sie zum Beispiel knallhart – da kommst du auch schon mal für zwei Wochen ins Gefängnis und musst ordentlich Geldstrafe zahlen. Was natürlich für mich besonders blöd wäre, weil ich nach dem Gefängnisaufenthalt noch eine lebenslange Visumsperre bekommen würde.
Gibt es auch tolerantere Bundesstaaten?
Kalifornien zum Beispiel. Es kommt aber in erster Linie darauf an, wie du dich den Polizisten gegenüber verhältst. Ich wurde auch ein paar Mal erwischt. Aber wenn sie merken, dass du clean und nett bist und deinen Müll mitnimmst, gibt es keine großen Probleme. Ich habe jedenfalls nur gute Erfahrungen gemacht. Aber klar: Wenn du in Amerika dreckig bist und einen Rucksack trägst, wirst du schnell mal mit der Polizei konfrontiert. Und wenn du draußen schläfst, jagen sie dich auch gerne von einem Ort zum nächsten.
Welche Beziehung hattest Du zu Amerika vor den beiden Reisen?
Ich hatte überhaupt kein Interesse an dem Land. Ich fand es immer so absurd: wenig Kultur, viel Selbstbewusstsein. Als ich aber zum ersten Mal dort war, auch noch als "Obdachlose", war ich begeistert, wie offen und hilfsbereit die Leute waren. Die kaufen dir was zu essen oder lassen dich auf der Veranda schlafen. Einmal standen wir an einem Truck Stop, hatten noch nicht mal unsere Bettelschilder hochgehalten, als auch schon ein Trucker in seinem verschwitzten Unterhemd auf uns zukam und grunzte: "Seid ihr auf Reisen?" Wir: "Ja." Und dann steckt der uns einen zusammengerollten Geldschein zu – das waren 100 Dollar.
Wie kam Dein Interesse für die Hobo-Kultur zustande?
Sie ist in vielen amerikanischen Liedern und Büchern sehr präsent – von Johnny Cash bis Jack London. Als ich 15 oder 16 war, kam außerdem der Film "Into The Wild" in die Kinos. Schließlich hat mir ein befreundeter Fotograf von seiner Reise durch die Hobo-Szene erzählt, und da hab ich gesagt: Das müssen wir nochmal machen!
Was ist für Dich das Besondere an der Szene?
Diese Leute steigen aus der Gesellschaft aus und sagen: Wir scheißen auf Karriere, wir scheißen auf Sicherheit – von wegen Versicherung, Immobilien, Auto, auch Familie. Die sagen sich komplett davon los und leben jeden Tag, so wie er kommt. Das finde ich schon sehr beeindruckend. Ich könnte auch nie behaupten, dass ich darüber berichte, wie es wirklich ist. Weil ich da nur ein paar Wochen war und mir immer klar war, dass ich irgendwann wieder zurückgehe. Ich wusste, dass es einen Ort gibt, an dem Leute auf mich warten, wo ich meine Bücher und meine Klamotten habe, wo ich warm duschen kann. Ich finde dieses Leben faszinierend, aber auf nur auf Zeit. Weil es mir irgendwann auch nicht mehr reicht, weil es zu limitiert ist. Trotzdem ist es die älteste Kultur, die es in den USA gibt. Da kann man wirklich sagen: Das gibt es nur dort, da können die Leute stolz drauf sein. Klar hat jeder Bundesstaat seine eigenen Regeln, aber du kommst überall zurecht. Du kannst aufgrund der Sprache mit allen kommunizieren und es ist kulturell überall sehr ähnlich – und das macht es so einzigartig.
"Ich kann nicht aus jedem Menschen das Gute hervorzaubern", lautet eine Erkenntnis im Buch. Trotzdem bekommt der Leser den Eindruck, dass Du viel über das Gute im Menschen gelernt hast.
Auf jeden Fall, weil du gesellschaftlich immer erstmal untergeordnet bist. Viele machen das nicht mit Absicht, aber sie gucken trotzdem auf dich herab: manche mitleidig, manche ehrfürchtig, manche mit Angst. Diese Leuten denken sich dann: Ich habe ein Auto und ich fahr jetzt nach Hause – und wo schläfst du? Daraus lässt sich viel ablesen, das ist so ähnlich wie beim Umgang von Chefs mit Putzfrauen – den finde ich auch immer spannend zu beobachten.
Spielt es auch eine Rolle, wie Du Dich verhältst?
Es kommt sehr stark darauf an, wie du selber drauf bist. Wenn ich mal fertig oder nicht aufnahmefähig war, dann hatte ich automatisch auch viel schlechtere Erfahrungen und kam schneller in Schwierigkeiten.
"Florida fand ich echt ätzend"
Gab es Momente auf deiner Reise, in denen Du richtig Angst hattest?
Am Anfang war es hart: Was für Leute treffe ich, wie sind die drauf, wie verändern die sich, wenn sie sich zum Beispiel was geschossen haben? Beim Trampen hatte ich aber keine Angst. Wenn mir da jemand unsympathisch war, habe ich einfach auf den Nächsten gewartet. Es gab auch mal ein unmoralisches Angebot, wo ich dann deutlich sagen musste, dass das so nicht läuft. Ich hatte oft das Gefühl, dass viele denken: blondes Mädchen, leichtes Spiel. Aber sobald dann ein bisschen kommuniziert wurde, haben sie schnell gemerkt: Das ist vielleicht doch nicht so einfach mit der. Man muss einfach immer gleich klarstellen, dass man nicht alles mit sich machen lässt. Dann trauen sich die meisten Leute auch nicht mehr. Oder es geht plötzlich um ganz andere Themen.
Hast du einen Lieblingsort in Amerika?
Oregon und Kalifornien sind landschaftlich wunderschön. Die Bahnstrecken verlaufen ganz weit abseits von den Straßen und Dörfern durch Gegenden, wo du mit dem Auto nie hinkommen würdest. Dort fährst du einfach stundenlang, ohne einen einzigen Menschen zu sehen.
Und wo war es besonders schlimm?
New Orleans war hart, aber nicht ganz so schlimm, weil sich das Leben dort auch aufgrund des Wetters auf der Straße abspielt und die Trennung zwischen Obdachlosen und der normalen Bevölkerung deshalb verschwimmt. Aber Florida fand ich echt ätzend. Da muss ich wirklich nicht nochmal hin. Die Leute waren superaggressiv, alle haben Angst vor allem, jeder trägt eine Knarre mit sich herum, keiner ist hilfsbereit. Ein Truckfahrer hat mich da mal mitten auf dem Highway rausgeworfen – und plötzlich stand ich irgendwo im Nirgendwo, überall Bärenwarnschilder, und die Autos sind an mir vorbeigeschossen. Muss ich nicht noch mal haben.

Aber Du wurdest dann irgendwann schon noch mitgenommen, als Du da mitten auf dem Highway standst?
Ja. Von einem Typen, der nach 26 Jahren gerade aus dem Knast gekommen war.
Und der war nett?
Der war sehr nett. Ist nur manchmal ein bisschen aggressiv geworden.
Aber nicht Dir gegenüber!?
Doch. Wenn er mich falsch verstanden hat, konnte er ein bisschen lauter werden. (lacht) Aber eigentlich war er cool. Vor allem war er die ganze Zeit völlig begeistert, wie gut das Auto funktioniert hat, wie gut die Bremsen und das Lenkrad reagieren – das kannte er gar nicht von früher. Er ist dann mit 180 Sachen über den Highway geschossen, obwohl er eigentlich total unsicher war. Ich war schon froh, als wir mitten in der Nacht irgendwann endlich in Pensacola ankamen.
Hier seht ihr den Trailer zum Buch: