Elisa Meyer steigt zu mir ins Bett. Jeder Zentimeter ihres Oberkörpers presst sich an meinen Rücken. Ihre Beine umschlingen meine. Ich warte darauf, dass sich etwas in mir sträubt, schließlich kenne ich Elisa Meyer erst seit zwei Stunden. Es passiert nicht. Nach wenigen Sekunden hat sich meine Atmung ihrer angepasst. Sie ist langsam und kommt aus dem Bauch.
Es ist warm im Zimmer, aber ihre Hände sind nicht schwitzig. Sie knetet damit meine Ohrläppchen, streicht fest von meiner Nase Richtung Haaransatz. Mit den Fingerspitzen fährt sie mir seitlich den Brustkorb bis zum Becken entlang, massiert meinen Bauch. An beiden Stellen bin ich normalerweise extrem kitzlig.
Macht ihr Körpereinsatz Elisa zu einer Hure?
Mit geschlossenen Augen rätsle ich, wie Elisa das macht. Meine Muskeln haben aufgegeben. So schlaff ist mein Körper sonst nicht mal beim Einschlafen. Ich fühle mich, als wäre ich in eine extrem dicke Decke eingerollt. Vielleicht kommt mir dieses Bild, weil ich von meinem Bruder als Kind immer fest in die Decke gewickelt werden wollte, wenn ich nicht schlafen konnte.
Bevor ich durch Elisas Wohnungstür trat, dachte ich, dass das, was sie macht, eine softe Art von Prostitution ist. Ich wollte herausfinden, wer die Frau ist, die mit der Einsamkeit anderer Geld verdient. Um deren Bedürfnisse zu befriedigen, setzt Elisa ihren ganzen Körper ein. Aber ist sie deshalb eine Hure?

Für 60 Euro in der Stunde kuschelt sie mit fremden Menschen. Die Brüste und der Intimbereich sind tabu, auch Küssen ist nicht erlaubt. Diese Regeln unterschreiben die Kunden vor der Kuschelstunde. Ansonsten gibt es keine Grenzen.
"Ich dachte, man legt sich hin und schmust ein bisschen, aber Elisa hat mich gleich angesprungen wie ein Tiger und mich fest im Arm gehalten. Das war so befreiend für mich", sagt Hans G. Der 66-Jährige war Entwicklungshelfer in Westafrika, seine Eltern hatten ihn als Baby aus ihrem Schlafzimmer verbannt, weil er viel geschrien hatte.
In Elisas Wohnung gibt es keinen Notfallknopf und kein Pfefferspray. Sie hat keine Angst, sagt sie, sondern verlässt sich auf ihren selbstbewussten Auftritt. Es klingt naiv. Doch Studien, nach denen Sexualstraftäter unsichere Frauen bevorzugen, geben ihr recht. In den eineinhalb Jahren, die sie jetzt professionell kuschelt, ist noch kein Kunde zudringlich geworden, sie musste noch kein Treffen abbrechen.
Elisa, 31, liebt, was sie tut. Wenn sie lacht, und das tut sie oft, ziehen sich filigrane Fältchen um ihre Augen. Ihre Kunden lernt sie dreimal kennen. Bei der Mailanfrage. Beim Türöffnen. Im Bett. Wenn sie einen Menschen das erste Mal sieht, verlässt sie sich nicht auf ihre Augen. "Zuerst sieht man nur eine Maske, jeder will sich gut präsentieren", sagt Elisa. Beim Kuscheln aber könne man nichts vor ihr verstecken.
Elisa ist egal, was andere Leute denken: darüber, dass sie meist keinen BH trägt, dass sie unrasierte Beine hat oder in der Öffentlichkeit schmust. Auch ihre Freunde hält sie gern an der Hand, wenn sie mit ihnen spricht, sie lässt sich streicheln, kuschelt mit ihnen. Von ihnen lässt sie sich verwöhnen in den Kuschelstunden ist sie diejenige, die gibt.
Fünf Jahre wohnte Elisa in Wien, im April 2017 hat sie ihre Doktorarbeit in Germanistik abgegeben. Jetzt ist sie auf der Suche nach einer Wohnung in Leipzig. Sie findet die Menschen in Deutschland offener als in Österreich. Erst mal will Elisa sich einen Nebenjob suchen, der Versicherung und Miete deckt. Langfristig hofft sie, dass sie vom Kuscheln leben kann. In Leipzig wird sie die erste professionelle Kuschlerin sein.

Wie in eine extrem dicke Decke eingerollt
Bisher hatte sie manchmal fünf Termine in einer Woche, manchmal nur einen. Für Menschen, die lieber in Gruppen kuscheln, gibt Elisa Kuschelpartys. Dabei berühren sich die Teilnehmer mehr Männer als Frauen und meist zwischen 25 und 60 Jahren unter ihrer Anleitung. Mit verbundenen Augen lässt sie die Teilnehmer einander ertasten, zeigt Meditationsübungen und formt einen Glückshaufen, in dem alle ineinander verschlungen liegen.
Elisa glaubt, dass sie mit dem Kuscheln Menschen helfen kann. Freunde dagegen warnen, sie ruiniere ihren Ruf, werde nie wieder einen normalen Job bekommen. Ihr Job löst Irritationen aus. Vielleicht weil sie dem Kuscheln die Romantik nimmt, es auf bloße Berührung reduziert. Dass Sex käuflich ist, hat die Gesellschaft akzeptiert. Beim Kuscheln jedoch geht es vielen Menschen um Gefühle. Elisa macht es zu einer Dienstleistung, einer Technik, die jeder lernen kann. Sie zerstört damit auch die Illusion, dass Kuscheln nur mit dem richtigen Partner schön ist.
"Früher habe ich manchmal für Sex bezahlt. Irgendwann habe ich gemerkt, dass das nicht die Nähe ist, die ich brauche. Ich wurde sehr melancholisch", sagt Hans G.

Elisas Kunden sind Menschen, die sehr lange nicht mehr im Arm gehalten oder gestreichelt wurden. Die meisten sind Männer über 40. Manche hatten noch nie eine feste Beziehung. Ihre Körper hungern. Einige leiden unter Burn-out und Depressionen oder haben große Schwierigkeiten, auf Menschen zuzugehen.
Das kann auch bedeuten, dass Elisa erst mal nur ihre Hand hält und neben ihnen sitzt. Sie erzählt von Kunden, die jahrelang isoliert gelebt haben. Sie seien hart wie Nussschalen, und es brauche ein paar Termine, bis sie mehr Nähe zulassen können.
Mit ihren Berührungen will Elisa ihren Kunden sagen: "Es ist okay, wie du bist. Ich fass dich gerne an." Sie sollen sich fallen lassen und neues Selbstvertrauen gewinnen. Elisa hofft, ihnen ihre Ängste zu nehmen. Ein Gespräch beim Psychologen könne die Kuschelstunde nicht ersetzen. Etwa ein Viertel ihrer Kunden sind weiblich. Es kommen auch Frauen zu ihr, die missbraucht wurden. Sie müssen erst wieder lernen, Berührung mit etwas Positivem zu verknüpfen. Elisa gibt keine Ratschläge. Sie hört zu und streichelt. Viele Kunden öffnen sich ihr, weil es ihnen leichter fällt zu reden, wenn sie jemand im Arm hält. "Nach meinem Burn-out habe ich viele Therapien gemacht, aber wieder Energie und Freude am Leben habe ich erst durch das Kuscheln bekommen."
Kunden fragen Profi-Kuschler in ihrer Region an
Dirk R., 39, ist geschieden, in seiner Ehe gab es zehn Jahre lang kaum Berührungen.
Elisa sagt, dass sie mit jedem kuschelt, der sich an die Regeln hält. Äußerlichkeiten dürfen kein Argument sein, findet sie. So sehen das auch die anderen Mitglieder in ihrem Verein "Kuschel Kiste". Im November 2016 hat Elisa das Kuschel-Netzwerk gegründet. Auf einer Website können Kunden Profi-Kuschler in ihrer Region anfragen zwölf weitere Kuschler hat sie bisher ausgebildet.
Drei Monate zuvor hatte Elisa auf Facebook einen Artikel über die verrücktesten Berufe gelesen. Auf Platz vier: der Kuschler; sie musste laut lachen. Dann fand sie die Vorstellung auf einmal nicht mehr lustig, sondern erkannte: "Genau das will ich machen."
Elisa Meyer ist süchtig nach Berührung. Schon als Kind liebte sie es, sich von ihrer Mutter stundenlang streicheln und kraulen zu lassen. Im Internet fand sie ein Onlineseminar der US-amerikanischen Kuschel-Koryphäe Samantha Hess. Sie meldete sich an und arbeitete einen 50 Seiten langen Reader durch. Die Themen: Wie funktioniert das sogenannte Kuschelhormon Oxytocin? Welche ethischen Richtlinien sollen Profi-Kuschler beachten?
Für die Urkunde musste Elisa drei Kuschelstunden halten und sich von Testpersonen bewerten lassen. Jetzt gibt sie selbst Workshops. Um noch mehr darüber zu lernen, wie Berührung auf Menschen wirkt, lässt sie sich vom Haptik-Forscher Martin Grunwald von der Uni Leipzig beraten. Ein Grund mehr für Elisa, nach Leipzig zu ziehen.
Seit April hat auch Elisas Freund Sebastian Drobny ein Profil auf ihrer Website. Er schrieb eine Mail, weil er sich zum Kuschler ausbilden lassen wollte. Aber schon bevor es in die Praxis ging, trafen sich die beiden privat und verliebten sich. Den Workshop hat Sebastian nachgeholt. Heute wartet er auf Kunden. Frauen haben anscheinend größere Hemmungen, Kuschelstunden zu buchen, und selbst viele liberal eingestellte Männer können sich nicht vorstellen, mit einem fremden Mann im Bett zu liegen.
Elisa lebt polyamor, seit sie 25 ist. Sie hat nicht nur einen Freund, sondern eine offene Beziehung mit der Möglichkeit, noch mit anderen Männern zusammen zu sein. So kam es auch im vergangenen März. Elisa hatte für zwei Monate einen zweiten Freund.
Ohne Berührung kein Leben
Sebastian lernte ihn kennen, akzeptierte ihn. Er selbst blieb Elisas Primärfreund, wie die Poly-Szene den Partner mit der engsten Bindung nennt. Aber auch diese Einteilung findet Elisa starr. Beziehungsanarchie beschreibe ihre Lebensform am besten. Egoistisch findet sie das nicht: "Es ist eigentlich genau das Gegenteil, man muss lernen zu teilen und loszulassen."
Elisa Meyer kämpft gegen die gesellschaftliche Norm, nach der Kuscheln außerhalb der Partnerschaft ein Tabu ist. Für sie ist Körperkontakt wie Essen und Schlafen: ein Grundbedürfnis. Es braucht Köche und Matratzenverkäufer. Also braucht es auch Kuschler.
Haptik-Forscher Grunwald hat ein ganzes Buch darüber geschrieben, warum der Mensch ohne Berührung nicht leben kann. In seinem Fach gilt es als wissenschaftlich belegt, dass Säuglinge ohne körperliche Nähe sterben. Erwachsene können einen Mangel an Berührung immerhin teilweise ersetzen: Sie versuchen es mit Sport, Haustieren, bezahltem Sex oder mit schädlichen Varianten wie Alkohol und Drogen. Wer als Erwachsener nicht berührt wird, stirbt nicht, kann aber anfälliger werden für Depressionen.
Berühren Menschen einander heute weniger als früher? Wissenschaftlich belegen lässt sich das nicht. Grunwald vermutet jedoch, dass die These stimmt. Es gebe immer mehr Fernbeziehungen, Nähe ist dann auf das Wochenende reduziert. Unsicherheit im Beruf mache viele rastlos sie arbeiten dann mehr, haben weniger Ruhe zum Kuscheln.
Grunwald findet es gut, dass es Menschen gibt, die den Mut haben, Kuscheln als Dienstleistung anzubieten. Die Forschung zeigt, dass auch Berührungen von Fremden wohltuend auf den Körper wirken, sogar auf das Immunsystem. Grunwald hat aber auch herausgefunden, "dass die Berührung durch vertraute Personen andere biologische Effekte auslöst und intensiver wirkt".
"Am Anfang konnte ich den Glücksrausch nach dem Kuscheln nicht ganz einordnen. Es fühlte sich an, wie frisch verliebt zu sein", sagt Dirk R.
Bevor ein Kunde eintrifft, meditiert Elisa
Für ihre Kuschelstunden schlüpft Elisa in Yogahosen, zieht ein bequemes T-Shirt an und bindet ihre braunen Haare zu einem Zopf. Ihre Kunden empfängt sie in ihrer privaten Altbauwohnung. An der Lampe hängen Girlanden und Luftballons, im Regal und auf dem Boden stapeln sich Philosophie-Wälzer, auf dem Sofa liegen Decken und Kuscheltiere.
Bevor ein Kunde eintrifft, meditiert Elisa. Damit wolle sie alles, was sie privat beschäftigt, loslassen. Zur Kuschelstunde schaltet sie eine Lampe an, die bernsteinfarbene Sprenkel an die Wand wirft. Dann breitet sie ein großes Tuch mit orientalischem Muster auf ihrem Bett aus. So werden die drei Quadratmeter der Matratze zu ihrem Arbeitsplatz.
Sich beim Kuscheln vollständig zu entspannen seien wir nicht gewohnt, sagt Elisa. Im Alltag würden intensive Berührungen schnell mit Sex verbunden. Das sei ein Grund dafür, dass mehr als die Hälfte ihrer männlichen Kunden am Anfang eine Erektion bekomme. Da die Männer sehr unsicher sind, ist ihnen das dann doppelt peinlich. Elisa bricht die Beklemmung, sagt, dass es für sie völlig normal ist. Sie weiß, wie sie erregte Männer beruhigen kann.
Dazu wechselt sie die Kuschelposition: Der Mann legt sich auf den Bauch, und Elisa streckt sich der Länge nach auf seinem Rücken aus. Trotz des intensiven Körperkontakts würden die Gekuschelten in dieser Haltung eher an das Gefühl kindlicher Geborgenheit erinnert als an Sex, sagt Elisa.
"Ich habe eine große Erleichterung gespürt. Ich musste keine sexuelle Leistung zeigen und eine Frau befriedigen. Ich durfte einfach das Kuscheln genießen", sagt Dirk R.
Sex kann das Kuscheln nicht ersetzen
Kuscheln ist für Elisa ein konkurrierendes Bedürfnis, Sex kann es nicht ersetzen. Es sei die "absichtslose Berührung", die Vertrauen und Geborgenheit gebe. Dazu gehört auch, dass Elisa versucht, so zu kuscheln, dass sich ihre Kunden nicht verlieben. Sie hält ihre Persönlichkeit zurück. Eine Garantie ist das nicht: Zweimal hat sich Elisa selbst in Kunden verliebt. Den beiden Männern hat sie keine weiteren Kuschelstunden mehr gegeben. Emotionale Anziehung störe die Konzentration auf das, was der Kunde braucht, und sei deshalb verboten.
Sobald ihr Wecker die Kuschelstunde mit Bachplätschern und Vogelstimmen beendet, versucht Elisa, die Sorgen des Kunden zu vergessen. Wenn sie den Gekuschelten mit einer Umarmung verabschiedet hat, öffnet sie die Fenster, um negative Gedanken nach draußen zu lassen. Manchmal ist ihr dann danach, wild durch die Wohnung zu springen und zu schreien.
