"Nach 15.30 Uhr keine Energydrinks mehr! Auch keinen Eistee – diesen Fehler haben wir letztes Jahr schon gemacht". Zwischen uns im Stuhlkreis steht ein Typ, groß, sportlich, im weißen Baumwoll-Shirt und erklärt die Regeln für die kommenden Tage. "Wir machen Mut" steht auf seinem Rücken. Auf seiner Brust klebt ein Streifen Kreppband – "Herr Arlt" steht da in schwarzen Druckbuchstaben. Allen ist klar: Herr Arlt macht heute hier die Ansagen. Auch mir.
Mut zur Verbesserung
Ich bin einen Tag zu Besuch im MUT-Camp, einem Intensivkurs außerhalb des normalen Schulunterrichts. Der Kurs soll Neunt- und Zehntklässler auf den ersten allgemeinbildenden Schulabschluss (ESA) vorbereiten – früher hieß das mal Hauptschulabschluss. Die Schüler kommen aus acht Stadtteilschulen in Hamburg, aus Langenhorn, Billstedt oder Uhlenhorst. Einige kennen sich schon aus der Schule, andere habe sich auf weiteren Seminaren in diesem Jahr kennengelernt.
Zusammen mit Erdem, Loana, Ebru, Faisal und 30 anderen Schülern sitze ich im Speisesaal der Jugendherberge in Tönning in Schleswig-Holstein. Ich habe auch so ein Kreppschild mit meinem Namen, aber "Frau Heyer" macht keine Ansagen – deshalb trage ich auch kein weißes T-Shirt wie Philipp Arlt. Ich bin heute so etwas zwischen Teilnehmer- und nicht ganz stille Beobachterin, die herausfinden will, ob Mut allein ausreicht, um das deutsche Bildungssystem zu verbessern.
"Ey, isch schwöre, hier ist null Wlan", ruft irgendjemand aus der Ecke des Raumes. Alle zücken erstmal ihre Handys und suchen nach einem Zugang, der sie wenigstens virtuell mit ihrer Welt verbindet. Denn in den nächsten fünf Tagen sind sie hier in der Jugendherberge bei St. Peter Ording und sollen lernen, sich ihren Ängsten zu stellen und ihre Stärken zu erkennen, freiwillig. So der Plan.
Keine Perspektive
In ganz Deutschland waren 2017 über 230.000 junge Erwachsene zwischen 15 bis 25 Jahren arbeitslos. Circa 50.000 Schüler verlassen jedes Jahr die Schule ohne Abschluss – allein in Hamburg sind es mehr als 500. "Der Anspruch des MUT-Camps ist es, diese Zahl zu senken", sagt Philipp Arlt. Der 31-Jährige hat im Jahr 2015 zusammen mit seinen Kolleginnen Freda von der Decken und Natalie Rappert ein Konzept entwickelt, das Hauptschülern die Möglichkeit bietet, sich außerhalb der Schule auf ihren Abschluss vorzubereiten und ihn erfolgreich zu beenden. Schwierigkeiten in der Schule, in der Familie und oft auch mit der deutschen Sprache wollen die Initiatoren überwinden.
"Den Schülern fehlt eine Perspektive", sagt Philipp Arlt. "Sie glauben oft nicht einmal daran, dass sie den Abschluss erreichen können und geben auf." Als Lehrer stellte er schnell fest, dass oft weder die Schule noch die Elternhäuser die Schüler ausreichend auf die Zukunft vorbereiten können. Und das die Begeisterung fürs Lernen mit dem Lehrer steht und fällt. Und damit eben auch die Chance auf eine Zukunft, mit einem festen Job, einer Perspektive. Mut und Selbstvertrauen, um das vorhandene Wissen aus der Schule auch wirklich einzusetzen – das sind die Ziele der MUT-Camps.

Das Lernen fällt leichter
"Herr Arlt und die Lehrer hier sind viel entspannter als in der Schule", sagt die 15-jährige Loana. Die Schülerin von der Ilse-Löwenstein-Schule sitzt ein wenig abseits in der Lobby der Jugendherberge, während die anderen zum nahegelegenen Discounter pilgern, um vor 15.30 Uhr doch noch schnell einen Energydrink abzustauben. Vor der MUT-Academy war Loana noch unsicher, wie es für sie nach der Schule weitergehen soll – ob es überhaupt weitergeht. Ihre Lehrerin überzeugte sie schließlich, sich anzumelden.
In der Atmosphäre des Camps sei das Lernen viel leichter, sagt sie. Am Anfang hatte sie Angst, mit vielen neuen Leuten zusammenzukommen, nun hat sie hier neue Freunde gefunden: "Man muss sich auch mal auf neue Dinge im Leben einlassen." Nun ist ihr Ziel im nächsten Jahr eine Lehre als Bankkauffrau zu beginnen und am besten vorher sogar noch Fach-Abi zu machen.
Magische Transformation
"Die Transformation, die Jugendlichen in den MUT-Kursen durchlaufen, ist für mich immer noch magisch", sagt Philipp Arlt. Eine Verwandlung, die ich innerhalb eines Tages nur erahnen kann. Die MUT-Academy ist eine Erfolgsgeschichte: Nach dem ersten Camp 2016 schafften 95 Prozent der Schüler im Anschluss ihren Hauptschulabschluss. "Das Problem ist jedoch, dass viele danach wieder in den Alltag zurückkehren", sagt Philipp Arlt, "weil sie zum Beispiel den mittleren Abschluss nicht schaffen und auch nicht wissen, was sie beruflich machen sollen." Was als Projekt neben der Schule begann, ist daher mittlerweile ein einjähriges Stipendienprogramm.
In drei Camps lernen die Jugendlichen zuerst für ihren Abschluss, beschäftigen sich mit ihrer Persönlichkeit und bereiten sich schließlich auf ihre berufliche Zukunft vor. Hinzu kommen Seminartage in Hamburg und eine Betreuung durch Mentoren. In den Kleingruppen sind nie mehr als 15 Teilnehmer, um jeden ganz individuell zu betreuen. Zwar werden die Schüler von ihren Lehrern vorgeschlagen, doch hier ist eben nicht die Schule: Außerhalb des gewohnten Umfeldes, ohne die obercoolen Freunde, kann jeder seine gewohnte Rolle ablegen – auch wenn es manchmal fünf Tage dauert.
Die Chance deines Lebens
In den verschlungenen Gängen der Jugendherberge, auf dem Weg zum Speisesaal und den Schlafräumen, hängen überall Motivations-Anregungen. "Gebe diesem Tag die Chance, der beste deines Lebens zu werden", steht da in roter Schrift auf weißem Druckerpapier. Hier ist alles selbstgebastelt: Vom Hinweis mit den Gruppenregeln, den die MUTivatoren, wie sich die anderen Betreuer rund um Philipp Arlt und Freda von der Decken nennen, mit Edding auf bunte Pappe geschrieben haben, bis zum Handout in den Arbeitsgruppen, die in den kommenden Tagen stattfinden werden.
Es ist der erste Tag des Camps. Im sogenannten YO.U- Camp geht es um Persönlichkeitsentwicklung: Ängste erkennen und herausfinden, wo die eigenen Stärken liegen. In den kommenden Tagen werden sie sich in kleinen Arbeitsgruppen mögliche Berufe anschauen und an ihren Bewerbungsunterlagen arbeiten. Eine Chance, die sich den meisten in einer normalen Klasse mit 30 Schülern selten bietet. Außerdem gibt es eine große Party zu planen. Sich organisieren und Verantwortung zu übernehmen gehört eben auch dazu. Am Ende steht eine MUT-Probe: Wie in einer mündlichen Abschlussprüfung in der Schule oder einem Bewerbungsgespräch müssen die 14- bis 16-Jährigen ihre Ergebnisse aus den Arbeitsgruppen vor einer Jury vorstellen. Zu dieser Präsentation kommen auch Familie und Freunde. Eine Bestätigung und Wertschätzung ihrer Leistung.
Willkommen in der Realität
Mir wird schnell klar, dass auch ich heute meine Vorurteile und Ängste überwinden muss. Seit ich das Büro der MUTivatoren verlassen habe, in dem mein Tag mit einer Vorstellung bei den Organisatoren begonnen hat, fühle ich mich wie im Film "Fack ju Göhte". Mein Wortschatz im Bereich Jugendsprache reicht nicht einmal annähernd aus, um zu wirken, als sei ich wirklich eine Teilnehmerin. "çüs" (sprich tschüsch) und "wallah", zwei Ausdrücke für Begeisterung und Staunen, kenne ich noch aus den Unterhaltungen der kleinen Geschwister meiner Freunde – dann hört es aber auch schon auf.
Die Lebensrealität dieser 14- bis 16-Jährigen ist von meiner meilenweit entfernt. "Wenn es für mich schlecht läuft, dann arbeite ich bei McDonalds und habe keine Ahnung, was ich mich meinem Leben anfangen soll", hat einer der Teilnehmer in einer Befragung vor dem Camp geschrieben. Sich über Chantal, Danger und überforderte Lehrer vor dem Bildschirm zu amüsieren ist das Eine – der Realität des deutschen Schulsystems ins Auge zu blicken das Andere.

Zwischen potentiellen Rapp-Stars und Fashion-Queens
Während ich mich ein bisschen verloren fühle zwischen potenziellen Rap-Stars, die sich weigern, den Esstisch im Speiseraum abzuwischen und Fashion-Fans, die schon dreimal das Outfit gewechselt haben, wirken Freda von der Decken und Philipp Arlt nahezu so begeistert wie ihre Schüler. Doch anders als im Film gibt es hier keine derben Sprüche, sondern klare Ansagen. "Du musst du selbst sein", sagt Philipp. "Sie erkennen sofort, wenn du versuchst, einen auf cool zu machen und dann ist deine Autorität weg."
Die MUT-Academy ist für ihn vom Projekt zum Vollzeitjob geworden. Auch seine Kollegin Freda von der Decken hat dafür ihren sicheren Vollzeitjob gekündigt. Auch wenn das Projekt sich aktuell noch aus Spenden, unter anderem von bundesweiten Stiftungen und Spendenvereinen finanziert, sind die Gründer seit 2018 Leiter einer gUG, eine gemeinnützige Unternehmensgemeinschaft – quasi die kleine Schwester der GmbH. Langfristig wollen sie finanziell auf eigenen Beinen stehen und das Projekt deutschlandweit oder sogar darüber hinaus ausrollen.
Vom Ingenieur zum Lehrer
Genau wie seine Kolleginnen ist der 31-Jährige über die Bildungsinitiative "Teach First" nach Hamburg gekommen. Der deutsche Ableger des weltweiten Netzwerks "Teach for all" vermittelt Uni-Absolventen für zwei Jahre als Lehrer an Schulen. Statt Consultant ist Philipp nun Lehrer: Der studierte Wirtschaftsingenieur unterrichtet Mathematik, Naturwissenschaften und Sport an der Stadtteilschule in Öjendorf, einer sogenannten Brennpunktschule. "Ich lerne selbst gern Neues und beobachte, wie andere lernen und sich entwickeln", sagt der 31-Jährige. Außerdem schätzt er das direkte Feedback: "Die Schüler sind einfach unglaublich authentisch."
Für die Schüler ist Herr Arlt wie ihr Zeki Müller aus "Fack ju Göthe": Ein cooler Typ, der mit ihnen auf Augenhöhe agiert und zu dem sie trotzdem aufschauen können. Mit ihm reden sie nachts auf dem Flur über ihre Familie oder das Problem mit der Freundin. "Ich möchte, dass diese Jugendlichen eine Chance bekommen", sagt Philipp Arlt.
Meine persönliche MUT-Probe endet damit schon am ersten Tag. Während die Gruppe die Party plant und sich auf die Nachtwanderung vorbereitet, mache ich mich auf die Suche nach einem Energydrink. Çüs Alter, viel Erfolg!