Die Bundesregierung muss den Bundestag an Entscheidungen zur weiteren europäischen Integration stärker beteiligen als bislang. Dies gilt vor allem für internationale Vertragsverhandlungen, wie das Bundesverfassungsgericht in einem in Karlsruhe verkündeten Urteil entschied. Die stärkere Teilhabe des Parlaments an solchen Verträgen diene als Ausgleich für die Verschiebung von Kompetenzen zugunsten der EU.
Die Grünen-Fraktion hatte gegen die Bundesregierung geklagt, weil sie ihrer Auffassung nach zu spät über die internationalen Verhandlungen zum Euro-Rettungsschirm ESM informieren wurde und auf dessen Ausgestaltung keinen Einfluss mehr nehmen konnte. Deutschland muss in den ESM, der zur Rettung notleidender Euro-Staaten dient, allein in diesem Jahr Bareinlagen in Höhe von 8,7 Milliarden Euro entrichten. Bundestag und Bundesrat können dem ESM am 29. Juni nur noch zustimmen, Änderungen daran sind ihnen nicht mehr möglich.
Das Bundesverfassungsgericht folgte nun der Argumentation der Grünen und betonten das im Grundgesetz verankerte Recht des Bundestags auf Mitwirkung in allen Angelegenheiten der Europäischen Union. Laut Urteil muss die Bundesregierung das Parlament so frühzeitig und umfassend über entsprechende Vertragsvorhaben unterrichten, dass der Bundestag sich dazu "eine Meinung bilden und auf die Verhandlungslinie und das Abstimmungsverhalten der Bundesregierung Einfluss nehmen kann".
Das Gericht machte der Bundesregierung zudem eine Fülle von Vorgaben, ab wann, wie und in welchem Umfang sie das Parlament künftig zu informieren und in Entscheidungsprozesse einzubinden hat. Diese umfassende Information des Bundestags sei Grundlage für das Parlament, "den europäischen Integrationsprozess zu beeinflussen". Dass es darüber öffentlich berate, schaffe zudem die Voraussetzung für eine Kontrolle der Regierung durch die Bürger.
"Diese Entscheidung ist ein weiterer wichtiger Baustein in einer Reihe von Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zur Stärkung nationaler parlamentarischer Verantwortung im Rahmen der europäischen Integration", sagte Gerichtspräsident Andreas Voßkuhle.
Außenminister Guido Westerwelle (FDP) kündigte in Berlin an, die Bundesregierung werde das Urteil "selbstverständlich nach bestem Wissen und Gewissen durchsetzen". Die enge Einbindung des deutschen Bundestags in europäische Angelegenheiten sei "ein wichtiges Anliegen, das auch im Interesse der Europapolitik Deutschlands" liege.
Der Parlamentarischer Geschäftsführer der Grünen, Volker Beck, sprach in Karlsruhe von einem "guten Tag für die Demokratie". Das Urteil werde bereits unmittelbare Konsequenzen für die Verhandlungen zum Fiskalpakt am Mittwoch im Bundeskanzleramt haben. Die Bundesregierung müsse nun ihre Blockade bei der Verankerung klarer Parlamentsrechte in der Begleitgesetzgebung zu dem Vertrag über die Haushaltskonsolidierungen in den EU-Staaten aufgeben: "Mit mündlichen und kursorischen Informationen kann der Bundestag nicht mehr abgespeist werden."
Ähnlich äußerte sich SPD-Parlamentsgeschäftsführer Thomas Oppermann. Die Euro-Rettungsmaßnahmen müssten nun "transparenter und für die Menschen nachvollziehbarer werden". Da habe "die Bundesregierung eine Bringschuld gegenüber Parlament und Öffentlichkeit", erklärte Oppermann in Berlin.