Die Abgeordneten des EU-Parlaments hatten am Donnerstag in Straßburg mit großer Mehrheit für einen Text gestimmt, in dem die Freilassung der Anwältin und Kritikerin Saieds, Sonia Dahmani, gefordert wird. Dahmani war am Donnerstag aus dem Gefängnis entlassen worden, bleibt aber unter richterlicher Aufsicht.
Saied hatte bereits am Mittwoch den Botschafter der Europäischen Union in dem nordafrikanischen Land einbestellt. Das Präsidialamt warf dem italienischen Diplomaten Giuseppe Perrone die "Nichteinhaltung diplomatischer Regeln" vor, ohne Einzelheiten zu nennen. Perrone hatte sich zuvor mit dem Vorsitzenden der größten tunesischen Gewerkschaft UGTT getroffen.
Die EU-Parlamentarier zeigten sich in ihrer Resolution "zutiefst besorgt" über den "Rückgang der Rechtsstaatlichkeit" und bei den Grundrechten in Tunesien und forderten die tunesischen Behörden auf, die Meinungs- und Versammlungsfreiheit ebenso zu wahren und zu schützen wie die Unabhängigkeit der Justiz.
Dutzende Politiker des Landes wurden derweil wegen angeblicher Verschwörung gegen den Staat zu teilweise jahrzehntelangen Haftstrafen verurteilt. "Das Berufungsgericht in Tunis hat am frühen Freitagmorgen ein endgültiges Urteil gegen die Angeklagten im sogenannten Verschwörungsprozess gegen den Staat gefällt", berichtete der Radiosender Mosaique FM am Freitag. Die verhängten Haftstrafen betrugen demnach zwischen fünf und 45 Jahren.
Tunesien war 2011 der Ausgangspunkt des sogenannten Arabischen Frühlings und ging als einziges Land als Demokratie aus den Aufständen hervor. Präsident Saied, der 2019 demokratisch gewählt wurde, trieb jedoch Verfassungsänderungen voran, die ihm deutlich mehr Macht verliehen. Seit geraumer Zeit geht er autoritär gegen Kritiker vor. Im 180 Länder umfassenden Ranking der Pressefreiheit von Reporter ohne Grenzen (RSF) fiel Tunesien in diesem Jahr um elf Plätze von Platz 118 auf Platz 129.